Wer hätte das gedacht... (Bildquelle) |
In den Jahren 1943 bis 1947 verfasste George Orwell regelmäßig eine Kolumne in der englischen Tribune. Er gibt darin einen faszinierenden Einblick in seine Gedankenwelt und wie er die damalige politische Debatte wahrnahm. Ähnlich den von ihm verfassten dystopischen Romanen sind auch seine dort ausgebreiteten Ansichten brandaktuell und lassen sich ohne Abstriche auf die heutige Zeit übertragen. Einen ganz besonderen Leckerbissen bietet dabei seine Kolumne über die Definition des Begriffs „Faschismus“. Dieser hat inzwischen zum Glück ausgedient, fand aber bekanntlich einen würdigen Nachfolger im deckungsgleichen „Nazi“.
George Orwell: Von allen unbeantworteten Fragen unserer Zeit ist vielleicht die wichtigste: „Was ist Faschismus?“
Genau diese Frage
stellte kürzlich eine amerikanische Umfrageorganisation einhundert
Personen und sie erhielt Antworten, die von „reiner Demokratie“
bis zu „reinem Diabolismus“ reichten. Wenn man in unserem Land
den durchschnittlich denkenden Menschen bittet, den Faschismus zu
definieren, dann antwortet derjenige in der Regel mit einem Hinweis
auf die Regimes in Deutschland und Italien. Das aber ist sehr
unbefriedigend, denn auch die großen faschistischen Staaten
unterscheiden sich in Struktur und Ideologie sehr stark voneinander.
Es ist zum Beispiel
nicht einfach, Deutschland und Japan in den gleichen Rahmen zu
bringen, und noch schwieriger ist es bei einigen der kleinen Staaten,
die in den Definitionsbereich des Faschismus fallen. Man geht zum
Beispiel davon aus, dass der Faschismus von Natur aus kriegerisch
ist, dass er in einer Atmosphäre der Kriegshysterie gedeiht und
seine wirtschaftlichen Probleme nur mit Hilfe der Kriegsrüstung oder
Eroberungen lösen kann. Für Portugal oder die verschiedenen
südamerikanischen Diktaturen jedoch gilt dies sicherlich nicht.
Ebenso fraglich ist
es, ob der Antisemitismus eines der Kernmerkmale des Faschismus
darstellt, da einige der faschistischen Bewegungen nicht
antisemitisch sind. Die über Jahre in amerikanischen Zeitschriften
detailliert ausgebreiteten Kontroversen darüber konnten nicht einmal
feststellen, ob der Faschismus eine Form des Kapitalismus ist oder
nicht. Dennoch, wenn wir den Begriff „Faschismus“ auf Deutschland
oder Japan oder Mussolinis Italien anwenden, dann wissen wir im
Großen und Ganzen, was gemeint ist.
Es ist vor allem in
der Innenpolitik, wo dieses Wort den letzten Rest seiner Bedeutung
verloren hat. Studiert man die Presse dazu, wird man feststellen,
dass es fast niemanden gibt - schon gar keine politische Partei oder
eine organisierte Institution irgendeiner Art - die in den letzten
zehn Jahren nicht als faschistisch bezeichnet wurde. Dabei meine ich
hier nicht die mündliche Verwendung des Begriffs „faschistisch“.
Vielmehr meine ich das, was schriftlich abgedruckt wurde. Ich habe
gesehen, wie die Worte und Kombinationen wie etwa „mit Faschisten
sympathisierend“, „faschistische Tendenzen“, oder einfach nur
„Faschist“ in aller Ernsthaftigkeit auf die folgenden
Persönlichkeitstypen angewendet wurden:
1. Konservative:
Alle Konservativen, egal ob Friedenstaube oder Falke, gelten
subjektiv als „profaschistisch“. Die britische Herrschaft in
Indien und den Kolonien wird als nicht unterscheidbar erachtet vom
Nazismus. Organisationen, die einen patriotischen und traditionellen
Typus haben erhalten das Attribut „kryptofaschistisch“ oder
“faschistisch gesinnt“. Beispiele umfassen die Pfadfinder, die
Polizei, der M.I.5, die Vereinigung britischer Kriegsveteranen. Eine
der Schlüsselphrasen lautet: „Die öffentlichen Schulen sind
Brutstätten des Faschismus.“
2. Sozialisten:
Vertreter des klassischen Kapitalismus (Beispiel Sir Ernest Benn)
behaupten, dass Sozialismus und Faschismus dasselbe sind. Einige
katholische Journalisten behaupten, dass Sozialisten die wichtigsten
Hlefer der Nazis in den besetzten Ländern gewesen seien. Von der
anderen Seite des politischen Spektrums wurde die selbe Anschuldigung
von der Kommunistischen Partei erhoben während ihrer ultra-linken
Phasen. Im Zeitraum 1930-35 bezeichnete der Daily Worker die Labour
Partei für gewöhnlich als die „Labour Faschisten“. Selbiges
wird gerne von anderen linken Extremisten wie etwa Anarchisten
bestätigt. Des weiteren erachten auch indische Nationalisten die
britischen Gewerkschaften als faschistische Organisationen.
3. Kommunisten: Es
gibt eine beachtliche Denkschule (Beispiele, Rauschning, Peter
Drucker, James Burnham, F. A. Voigt), die sich verweigert, einen
Unterschied zu ziehen zwischen dem nationalsozialistischen Regime und
dem sowjetischen, und sie sind der Ansicht, dass alle Faschisten und
Kommunisten annähernd das selbe anstreben und sich teilweise sogar
aus dem gleichen Personal rekrutieren. Bei The Times (Vorkriegszeit)
wurde die UdSSR. als ein „faschistisches Land“ bezeichnet. Ebenso
von der anderen Seite des Spektrums wird diese Zuschreibung von
Anarchisten und Trotzkisten bestätigt.
4. Trotzkisten:
Kommunisten beschuldigen die Trotzkisten und damit die Organisation
von Trotzki selbst, eine „kryptofaschistische“ Organisation in
Naziaufmachung zu sein. In der Zeit der Volksfront war diese
Sichtweise auf der politischen Linken allgemein anerkannt. Während
ihrer ultra-rechten Phasen neigen die Kommunisten generell dazu, den
Vorwurf des Kryptofaschismus auf Fraktionen der Linken anzuwenden,
wie z.B. den Common Wealth oder die I.L.P.
5. Katholiken:
Außerhalb ihrer eigenen Reihen wird die Katholische Kirche fast
überall als „profaschistisch“ erachtet, und das sowohl objektiv
als auch subjektiv.
6. Kriegsgegner:
Pazifisten und andere, die sich gegen den Krieg einsetzen werden
häufig beschuldigt, nicht nur den Achsenmächten die Arbeit zu
erleichtern, sondern dass sie unter anderem aufgrund einer
„profaschistischen“ Gesinnung gegen den Krieg seien.
7. Kriegstrommler:
Kriegsgegner stützen sich in der Regel auf die Behauptung, dass der
britische Imperialismus schlimmer sei als der Nazismus, so dass sie
den Begriff „faschistisch“ auf jeden anwenden, der sich einen
militärischen Sieg wünscht. Die Anhänger der People’s Convention
steigerten sich gar in die Behauptung hinein, dass der Widerstand
gegen eine nationalsozialistische Invasion ein Zeichen für
„faschistische Sympathien“ sei. Der Home Guard [eine Art
britisches Pendant zum Landsturm] wurde gleich nach ihrem Aufbau
vorgeworfen, eine „faschistische Organisation“ zu sein. Darüber
hinaus neigt die gesamte Linke dazu, Militarismus generell mit
Faschismus gleichzusetzen. Politisch interessierte Soldaten mit
niederem Rang bezeichnen ihre Offiziere fast immer als „faschistisch
gesinnt“ oder „geborene Faschisten“. Ob Kampfsportschulen,
Uniformen, das Salutieren von Offizieren, das alles gilt als dem
Faschismus zuträglich. Vor dem Krieg galt der Eintritt in die Armee
als ein Zeichen für faschistische Tendenzen. Sowohl die Wehrpflicht
als auch eine Berufsarmee werden als faschistische Phänomene
angeprangert.
8. Nationalisten:
Der Nationalismus wird allgemein als inhärent faschistisch
angesehen, dies gilt selbstverständlich aber immer nur für jene
nationalen Bewegungen, die der Redner selbst ablehnt. Der arabische
Nationalismus, der polnische Nationalismus, der finnische
Nationalismus, die indische Kongresspartei, die Muslimische Liga, der
Zionismus und die I.R.A. werden zwar allesamt als faschistisch
bezeichnet, nie aber von denselben Personen.
Man kommt nicht
umhin, als das Wort „Faschismus“ in seiner heutigen
Verwendungsform als fast völlig bedeutungslos zu bezeichnen. Dabei
wird der Begriff in Gesprächen natürlich noch um einiges wilder
eingesetzt als bei schriftlichen Erzeugnissen. Mir kam es schon zu
Ohren, dass Landwirte, Ladenbesitzer, Schuldgeldkritiker, körperliche
Züchtigung, die Fuchsjagd, der Stierkampf, die Vereinigung
konservativer Hinterbänkler im Parlament, eine überparteiliche
Vereinigung linker Politiker und Intellektueller, Rudyard Kipling,
Gandhi, Chiang Kai-Shek, Homosexualität, die Sendungen von J.B.
Priestley, Jugendherbergen, Astrologie, Frauen, Hunde und wer weiß
was sonst noch als faschistisch bezeichnet wurden.
Dieses Chaos der
Zuschreibungen aber folgt doch einer verborgenen Gemeinsamkeit.
Zunächst einmal ist klar, dass es sehr große und leicht erkennbare
Unterschiede gibt zwischen den als faschistisch bezeichneten Regimes
und jenen, die als demokratisch bezeichnet werden. Zweitens, wenn
sich „faschistisch“ als „in Sympathie mit Hitler“ übersetzen
lässt, dann sind einige der von mir oben genannten Anschuldigungen
offensichtlich sehr viel gerechtfertigter als andere. Drittens,
schwingt selbst bei Menschen, die den „Faschisten“ rücksichtslos
in alle Richtungen schleudern, eine emotionale Bedeutung mit. Der
„Faschismus“ ist für sie grob gesagt etwas grausames,
skrupelloses, arrogantes, finsteres, illiberales und gegen die
Arbeiterschicht gerichtetes. Mit Ausnahme der relativ geringen Zahl
faschistischer Sympathisanten im Land würde wohl fast jeder
Engländer die „Tyrannei“ als Synonym für „Faschismus"
akzeptieren. In etwa das ist die wohl nahestehe Definition dessen,
was aus diesem oftmals missbrauchten Wort geworden ist.
Gleichzeitig
allerdings versteht man unter dem Faschismus auch ein politisches und
wirtschaftliches System. Warum aber können wir dann keine klare und
allgemein akzeptierte Definition dafür haben? Es ist verflixt! Noch
jedenfalls sind wir weit weg davon. Die Erörterung der Gründe,
warum wir noch immer keine brauchbare Definition haben würde den
Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, im Kern aber geht es darum, dass es
unmöglich ist, den Faschismus zufriedenstellend zu definieren ohne
dabei Eingeständnisse machen zu müssen, die entweder die Faschisten
nicht akzeptieren, oder die Konservativen, oder die Sozialisten
irgendeiner Couleur.
So bleibt, dass
einem im Moment nicht viel anderes übrig bleibt, als das Wort mit
einer gewissen Vorsicht zu verwenden und es nicht, wie üblich, auf
die Ebene eines universellen Schimpfwortes zu degradieren.
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