Schweden, diesmal positiv konnotiert |
The Spectator: Schweden hat mit seiner Coronapolitik eine Alternative zur umfassenden Quarantäne präsentiert - und es funktioniert
Die neue Kultur der
sozialen Distanzierung stellt seltsame Dinge mit uns an. Vor einigen
Wochen erhielt ich eine Einladung zu einem klassischen Arbeitsessen
und ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal einen so
urtümliche Freude empfand. Auch wenn das Leben in Schweden in den
letzten zwei Monaten überraschend normal war, so haben auch wir uns
doch alle ein wenig zurückgezogen. Viele von uns haben von zu Hause
aus gearbeitet.
Die ersten zwei Wochen fühlten sich an, als wäre
das Leben leichter geworden, das gebe ich freimütig zu. Es war, als
hätte mir jemand unerwartet Zeit geschenkt. Danach aber sind wir
alle in Apathie versunken, da de facto alle unsere Leben auf Eis
gelegt wurden. Es fühlte sich sinnlos an, für die Zukunft zu
planen. Ein Wiedersehen mit den Kollegen wurde zu einem fernen
Wunsch. Einen Arbeitskollegen zum Mittagessen treffen? Sicherlich ist
das nur etwas für wenige Privilegierte. Die Einladung zu einem
Arbeitsessen zu erhalten fühlte sich daher an, als hätte man mir
heimlich eine Einladung für die Teilnahme an einer römischen Orgie
gegeben.
Die schwedische
Wirtschaft hat endlich begonnen, sich wieder von Zoom als dem neuen
wichtigsten Arbeitsutensil zu trennen. Auf den Radwegen Stockholms
sieht man jetzt wieder die morgendlichen Pelotons mit Pendlern.
Autohersteller wie Volvo haben ihre Fabriken wiedereröffnet, und
Angestellte kehren allmählich in ihre Büros zurück. Für die
meisten Arbeitsplätze wurden eigens Routinen und Protokolle für die
virale Sicherheit entwickelt - wobei es sich beim meisten davon
ehrlich gesagt um gesunden Menschenverstand handelt: Machen Sie es
den Mitarbeitern leicht, für gute Hygiene zu sorgen und vermeiden
Sie, dass sich viele Menschen zur gleichen Zeit am gleichen Ort
aufhalten.
Es gibt also keine
Vermeidungspanik. All jene, die nicht mit dem Fahrrad zur Arbeit
fahren können, dürfen früher kommen oder gehen, damit während der
Stoßzeiten die öffentlichen Verkehrsmittel nicht zu voll werden.
Das Mittagessen wird von Restaurants direkt an den Arbeitsplatz
geliefert. Besprechungsräume und Gemeinschaftsräume sind
geschlossen oder mit schützendem Acrylglas ausgestattet. Kollegen,
die sich infiziert und damit immunisiert haben, erhalten zusätzliche
Aufgaben. In der von mir verwendeten Stockholmer Buchhaltung,
verwaltet einer der Chefs, die sich Anfang März infiziert haben,
jetzt den Kuchenwagen für den Nachmittag. Sie nennen ihn „Mr.
Antikörper“, weil ihm das Fitnessprogramm des Unternehmens nicht
so gut gefällt wie die Kuchen, die er serviert.
Es ist der gesunde
Menschenverstand, der ausländische Beobachter veranlasst hat, einen
zweiten Blick auf das „schwedische Experiment“ zu werfen. Wir
sind nicht mehr nur der Schwarze Peter des Kampfes gegen den
Coronavirus - dieses kleine, aufmüpfige Land, das eine umfassende
Abriegelung starrsinnig ablehnte. Ja, auch wir haben uns in sozialer
Distanzierung geübt, allerdings durften Einzelpersonen und Firmen
selbst herausfinden, wie sie die Dinge praktisch organisieren können,
ohne dabei alles herunterfahren zu müssen. Das eigentliche
schwedische Experiment drehte sich also um „Verhaltensänderung“:
Jeden Einzelnen dazu zu bringen, freiwillig das Verhalten so zu
ändern, dass sie sich nicht infizieren oder das Virus auf andere
übertragen. Und es hat funktioniert.
All dem kommt eine
ziemlich große Bedeutung zu. Die Schweden haben sich zehn Wochen
lang darin geschult, wie sie mit dem Virus zusammenleben können.
„Schweden ist ein Zukunftsmodell, wenn wir zu einer Gesellschaft
zurückkehren wollen, die wir nicht schließen müssen“, sagt Mike
Ryan von der WHO. Die meisten Menschen in Schweden haben im
Allgemeinen keine Angst davor, andere Menschen zu treffen oder sich
in einer Umgebung aufzuhalten, in der sich das Virus verbreiten
könnte: Sie bewältigen die Risiken, indem sie eine soziale Distanz
wahren. Umfragen zeigen, dass mehr als 50 Prozent glauben, dass sie
das Coronavirus hatten, oder dass sie es noch bekommen werden; nur 15
Prozent halten es für unwahrscheinlich.
Vielleicht ist es diese
Haltung, die so viele in der Welt dazu veranlasst hat, uns für
rücksichtslos und töricht zu halten: Wir sind in unserer Normalität
zu einem ethnographischen Studienobjekt geworden. Aber all die
Lehren, die die wir als Gesellschaft im Umgang mit dem Coronavirus
lernen konnten sagen uns, dass es nicht gefährlich ist, sein Zuhause
zu verlassen oder seine Kinder zur Schule zu schicken. Die Menschen
müssen keine Angst davor haben, ihr Leben auf eine ganz normale Art
und Weise zu leben. Bemerkenswerterweise blicken sieben von zehn
Schweden positiv in die Zukunft.
Auch das Vertrauen
in die Menschen, dass sie Ratschläge annehmen und ihr Verhalten
ändern werden, hat das gewünschte Ergebnis gebracht. Die Mobilität
ging zurück, aber nicht auf ein Niveau, dass es die Wirtschaft
erdrückte. Bei den Modellen für den Verlauf der Epidemie, lässt
sich mit Blick auf Schweden schließen, wurde ganz einfach nicht
berücksichtigt, dass die Menschen auch freiwillig auf die Bitte um
eine Verhaltensanpassung an die Umstände reagieren würden.
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