Verlorenes Wissen: Zu zweit heben verringert die Belastung der Ellbogen (Bildquelle) |
Telepolis, Schatzgrube linker Ehrlichkeiten
Telepolis als der netzpublizistische Arm der Linkspartei ist eine der wenigen linken
Adressen im Netz, die ich noch regelmäßig frequentiere. Inzwischen
dreht sich mein Interesse dort hauptsächlich um die Leserkommentare und weniger um die Artikel, die früher einmal ausgewogen waren, sich
heute aber meist irgendwo zwischen Zehnnägel umbiegend und offen
grotesk bewegen.
Der verbliebene Reiz an Telepolis beschränkt sich zumeist auf die Leserkommentare, da die Moderatoren
des zugehörigen Forums eine für linke Dogmatiker erstaunliche Laizes-faire
Politik betreiben – jedenfalls so lange man der heiligen Klima-Greta nicht zu
nahe tritt. So findet man dort im Wettkampf um die beste Meinung nicht selten linke
Ehrlichkeiten, die jener der
Sandra L. in nichts nachstehen.
Für jemanden wie
mich, der kaum einer politischen Debatte im digitalen Nirwana der
Anonymität aus dem Weg geht, ist der von den Artikeln und Forenbeiträgen ausgehende Reibebaumeffekt so verlockend, dass ich in den letzten Jahren bereits mehrmals mein Nutzerkonto habe löschen lassen, weil die
Bloßstellung linker Naivitäten und Abgründe einfach zu viel
meiner Zeit gefressen hat.
Wer einmal den Klick zu den Artikels der Seite und dann zu den Leserkommentaren wagt, der wird
schnell sehen, was ich meine. Kaum ein Artikel mitsamt dutzender
Leserkommentare dazu vergeht, an denen man sich nicht mit der
rhetorischen Machete abarbeiten möchte.
Wenn linke Argumente zu weniger Lohn führen
Ein
ganz besonders widersinniges Stück Text lässt sich dort seit
zwei Tagen durchesen. Geschrieben wurde es von einem Christoph Jehle
und es geht darin um die Folgen der Mangelwirtschaft in Krankenhäusern für das Pflegepersonal. Jehle
schrieb darüber ein Buch, wobei er mit dem Artikel dem Publikum als Teaser die
Quintessenz seiner Beobachtungen darlegen durfte.
Über das Buch kann
ich natürlich nicht urteilen, da sich dessen Lektüre aller
Wahrscheinlichkeit nicht einmal mit einem Negativpreis versehen
lohnen würde. Daraufhin deutet der Inhalt seines Artikels darüber, in dem es der gute Christoph doch tatsächlich schaffte, sich in unter 800 Worten so
sehr ins eigene Knie zu schießen, dass ich an dieser Stelle ein paar Worte darüber
verlieren möchte.
So beginnt der
inhaltliche Teil von Jehles Elaborat mit einer Feststellung, die
einen die Augenbrauen heben lässt: „Anders als vielfach berichtet
ist die Bezahlung in der Pflege in Kliniken heute nicht mehr das
Kernproblem, sondern die Arbeitsbedingungen und der chronische
Personalmangel.“
Das Pflegepersonal
wird also gut bezahlt, denkt sich der Leser von jenseits der
Krankenhauspforte. So etwas hört man immer gerne.
Unangenehm bleibt
natürlich der Faktor mit den suboptimalen Arbeitsbedingungen. Diese
aber sind bekanntlich auch in anderen Sektoren mitunter zum Schreien. Man denke etwa an Kanalisationsschrubber, Nachtwächter oder
Arbeiter, die sich auf Ölbohrplattformen verdingen. Nicht ohne Grund
verdienen wenigstens letztere sehr gutes Geld für ihre Arbeit. Die Methode folgt dabei dem alten Spiel aus Angebot und Nachfrage mit dem Preis als
entscheidendem Vehikel zum Ausgleich zwischen den beiden Seiten des Arbeitsmarkts.
Man sollte entsprechend
annehmen, dass mit dem offenbar signifikanten Anheben der Löhne im
Pflegebereich eine ausreichende Grundlage geschaffen wurde, um auch
hier einen Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage zu schaffen. Wie
Jehle jedoch schreibt, besteht nach wie vor ein „chronischer
Personalmangel“.
Es fragt sich: Warum
nur?
Die Antwort darauf gibt
Jehle zwei Sätze weiter im nächsten Absatz. Dort schreibt er:
„Ein durch die vergangenen Tarifsteigerungen erreichtes höheres
Einkommen bietet größere Freiheiten, in Teilzeit zu gehen.“
Aha, da haben wir
ihn also, dem Pudel sein Kern.
Was ich daraus lese
ist, dass im intensivst gewerkschaftlich und politisch
beeinflussten Gesundheitssektor versucht wurde, dem chronischen
Personalmangel mit Lohnerhöhungen beizukommen. Das ist auf den ersten Blick ein logischer Schritt, der in der Vergangenheit immer wieder zum Erfolg geführt hat.
In den Pflegeberufen jedoch
passierte etwas anderes. Es schickten sich nicht mehr junge Menschen an, den Beruf der
Krankenschwester oder des Pflegers zu erlernen; es kam auch nicht zu mehr Überstunden wegen der besseren Bezahlung; und auch die Veteranen im Geschäft entschieden sich nicht für längere Lebensarbeitszeiten.
Nein, es kam zu einer Substitution des zusätzlichen Gehalts pro
Stunde mit mehr Freizeit.
Daraus abgeleitet
ergibt sich eine Schlussfolgerung, die Jehle und andere Ideologen der
politischen Linken ganz offenbar nicht bedacht haben, denn sonst hätte es diesen
Artikel und womöglich auch das Buch darüber nie gegeben. Bei
Lichte betrachtet nämlich lautet die überaus klare Implikation aus der beschriebenen
Sequenz bestehend aus Lohnerhöhungen mit der Folge verringerter Arbeitszeiten wiefolgt:
Das Pflegepersonal in deutschen Krankenhäusern verdient zu viel Geld. Die Entlohnung muss sinken!
Der Grund dafür
liegt in der simplen Erkenntnis, dass die Lösung des Problems ein
neues Problem schuf, das die Lösung des ersten Problems
neutralisierte. Vorher wurde weniger Geld für Pflegekräfte
ausgegeben und es gab einen chronischen Angebotsmangel. Dann wurde
mehr Geld ausgegeben und der chronische Angebotsmangel machte sich
woanders bemerkbar. Daraus folgt, dass würde man die
Entlohnung erneut senken, dann gäbe es zwar noch immer zu wenige
Pflegekräfte in deutschen Krankenhäusern, aber man spart Geld
dabei.
Es ist eine kaum zu
überbietende Entlarvung des typisch linken Forderngstouretts nach
mehr Geld. Jehle aber schafft es, sich selbst noch einmal zu
übertreffen – und zwar direkt im nächsten Satz. Dieser lautet: „In
welchen Fällen die Tariferhöhung jetzt konkret eine Reduktion der
Arbeitszeit zur Folge hat, wird nicht erhoben und lässt sich daher
nicht in Zahlen belegen.“
Jehle weiß also nichts
und vermutet nur. Es ist alles Spekulation.
Wem das aber nicht
genügt als Nachweis für Inkompetenz in der Sache und die
Fehlinvestition von Zeit und Geld zum Lesen seines Buchs darüber,
der bekommt gleich noch einen Satz geliefert. Erneut ist es der nächste:
„Eine einschlägige Statistik gibt es somit nicht und in der Praxis
stellt man nur fest, dass Pfleger häufig springen müssen und nicht
in ihrer üblichen Station zum Einsatz kommen.“
Aha, es gibt
keinerlei Statistiken über die Zustände, aber es wird beobachtet,
wie die Mitarbeiter „springen müssen“, vulgo „flexibel
da eingesetzt werden, wo sie gebraucht werden“.
Dabei handelt es sich aber auch wirklich um einen
ungeheuren Vorgang. Man muss sich nur einmal vorstellen, wie groß
der Aufschrei wäre, wenn das auch in der freien Wirtschaft so wäre.
Also, dass ein Klempner manchmal mit Haaren verstopfte Abflüsse von
Duschen reinigt und dann plötzlich ein völlig anderer Kunde in einem anderen Gebäude fordert, der Klempner solle doch
bitte die Verstopfung im Ablauf der Kloschüssel entfernen –
und dann möglicherweise noch am Samstag als Notfalleinsatz, wenn
doch eigentlich der zweite Teil von „Work-Life-Balance“ ansteht.
Absolut
Ungeheuerlich! Aber wirklich auch…
Wir sind an dieser
Stelle gerade einmal bei der Hälfte des Textes angelangt, wobei
Jehle hier einen Schwenk macht zur nur bedingt lösungstauglichen
Anwerbung EU-ropäischer und chinesischer Pflegemitarbeiter. Er
überlässt es dabei weitgehend unserer Phantasie, warum dem so sein
könnte. Mein Verdacht fällt auf die Tatsache, dass auch
Rumänien einige Krankenschwestern für seine Kranken benötigt und irgendwann einfach keine mehr da sind.
Schließlich fällt
Jehles Augenmerk auf ein für linke Denkergrößen untypisches Problem, das bei der Anwerbung von
ausländischem Personal auftreten kann. Es geht um eventuelle
Verständigungsprobleme zwischen Pfleger und Gepflegtem und er spricht damit eine Hürde an, die sonst nur Nazis und Rassisten sehen. Im
multikulturell umgepflügten städtischen Umfeld sieht Jehle dabei nur wenige
Probleme, beherrschen hier doch die meisten Denglisch – naja, oder
Arabisch, wenn aus Riad abgeworbene philippinische Pflegerinnen auf
„noch nicht so lange dalebende“ Patienten treffen.
Vor allem im ländlichen Bereich seien Verständigungsprobleme jedoch kritisch, so Jehle, wobei laut ihm selbstverständlich nicht die faulen, weil zu hoch bezahlten Pflegekräfte das Problem darstellen und auch Expats nur bedingt für die Sprachaneignung verantwortlich seien. Vielmehr liegt es an den erkrankten Einheimischen, die in erster Linie die Schuld daran tragen, wenn sie der bulgarischen Schwester nicht auf Kyrillisch mitteilen können, wo es zwickt.
Die Lösung über
die Polyglottisierung der Gesellschaft jedoch, wie auch die technische
Optimierung zur Erhöhung der Pflegeproduktivität als Abhilfe gegen den Engpass gefallen Jehle allerdings nicht. Dennoch möchte er jenseits des – siehe oben - gefühlten
Problems der widrigen Arbeitsbedingungen und der seines Erachtens weiterhin mangelhaften Ausrichtung des Berufsfeldes auf die
Work-Life-Balance, keine wirklichen Lösungsvorschläge vortragen.
Stattdessen verheddert er sich in den letzten Absätzen in der
Erklärung von Tennisärmen für die (sic! weiblichen)
Krankenschwestern, weil die Patienten zu schwer sind, sowie in der Beschreibung von Fußpflegern
mit „Weiterbildungszertifikat für die Behandlung von Diabetikern“.
Gut zu wissen, dass es das gibt, denkt
man sich da.
Der Gerechtigkeit
halber für den Christoph sollte ich noch anfügen, dass er die neologistische Begrifflichkeit der „Work-Life-Balance“ zwar intensivst
umschreibt, diese jedoch kein einziges Mal selbst verwendet. Es kann
also gut sein, dass ihm und seinesgleichen die inhaltliche Leere des
Schlagworts bereits gewahr wurde und auch, dass sich damit jenseits
„queer-feministischer“ Debattenzirkel kein Blumentopf mehr
gewinnen lässt.
Alles in allem war
der Text und die Beschäftigung mit diesem wie so oft bei Telepolisprodukten
eine Übung, die – so bestätigen auch nicht wenige der
Leserkommentare - größtenteils im Mülleimer vergeudeter Mühen
abgelegt werden kann.
Und hier die Lösung, Herr Jehle
Das Problem besteht darin, dass Pflegekräfte besser entlohnt werden müssen, um mehr Personen für den Beruf zu begeistern. Gleichzeitig jedoch führt die Belastung in Verbindung mit der relativ guten Bezahlung zu unverhältnismäßig vielen Teilzeitstellen.
Die Lösung fände sich daher in einer Bezahlung, die nur dann hoch ist, wenn auch viel gearbeitet wird. Es böte sich daher an, Pflegekräften eine „progressive Entlohnungspauschale“ zu bezahlen. Das
hieße beispielsweise, dass zusätzlich zu einem Grundlohn von 14
Euro pro Arbeitsstunde einmal im Jahr eine Pauschale bezahlt wird, deren Höhe von den geleisteten Gesamtstunden im jeweiligen Jahr
abhängt.
Wer in einem solchen
Entlohnungsregime dann meint, nicht mehr als 30 Stunden in der Woche
arbeiten zu müssen, der bekommt auch keine Entlohnungspauschale. Wer
dagegen durchschnittlich mindestens so viel arbeitet wie ein
Vollzeitmitarbeiter, der bekommt am Jahresende ein kleines Zubrot, dass es für ein durchschnittliches Leben ausreicht. Wer wöchentlich wiederum (fast über-)volle 40 Stunden ableistet,
der bekommt eine Pauschale, die für ein sehr gutes Facharbeitergehalt
ausreicht. Und wer schließlich über Dauerdienste am Wochenende im Schnitt sogar 50 Stunden
abzureißen Willens ist, der
bekommt über die Pauschale so viel zugeschustert wie sonst nur die Planungseliten in der Verwaltung.
Hier beispielhaft
die tabellarische Aufschlüsselung, wie ein derartiges
Pauschalensystem auf Basis eines Stundenlohns von 14 Euro aussehen
könnte:
Beispiel für eine Fleiß belohnende Lohnprogression |
Die Zahlen der
Tabelle sind so abgestimmt, dass mit einer üblichen
Wochenarbeitszeit für Vollzeitbeschäftigte von circa 35 Stunden
das für Krankenschwestern typische Einstiegsgehalt erreicht
wird. Gleichzeitig ist die Progression für das Gesamtbrutto so
ausgelegt, dass bei diesem Niveau bei einer Änderung der
Wochenarbeitszeit auch die stärkste Progression nach oben bzw.
Degression nach unten vorliegt.
Wer in diesem
Gehaltsgefüge über einen längeren Zeitraum mehr als das übliche
Soll ableistet, der wird maximal mehr belohnt. Wer dagegen unter dem
Soll bleibt, dessen Entlohnung wird sehr schnell fallen. Ebenso verhindert die sinkende Progression im höheren Stundenbereich, dass es individuell zu einer Arbeitsüberbelastung kommt.
Die von Jehle
angesprochene Substitution des erhöhten Gehalts durch Freizeit wäre
damit nur unter starken Abstrichen an den Lebensstandard möglich, so dass der Effekt zum größten Teil wieder aus dem Pflegebereich
verschwinden würde. Dennoch könnten die ebenso bemängelten widrigen
Arbeitsbedingungen in einer Weise entlohnt werden, dass sich Angebot und
Nachfrage treffen könnten und die Knappheit wieder verschwindet. Denn
ein durch Fleiß erreichbares sechsstelliges Jahreseinkommen für
einen Facharbeiter sollte ausreichend viele Pflegekräfte anziehen,
um die Lücke im System dauerhaft zu schließen.
Bitteschön, gern
geschehen.
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