Leben im Failed State Libanon – Ein Blick in unsere Zukunft?

Berlin 2040 (Bildquelle)

Der Blick auf Wahlumfragen zeigt, dass wir uns in Deutschland regional wie bundesweit immer weiter in Richtung einer politischen Balkanisierung bewegen. Die Fraktionen werden kleiner, sie werden gleichverteilter und die Milieus dahinter haben immer weniger miteinander zu tun. Dazu kommen seit vier Jahren massenweise Migranten, die neue Milieus und damit neue Fraktionen bilden. Uns steht politisch, sozial und kulturell eine Spaltung bevor, die sich bis in die gesellschaftliche Mikroebene auswirken wird. Ein Land, das diese Entwicklung schon vor über 30 Jahren hinter sich brachte ist der Libanon, der einstmaligen „Schweiz des Nahen Ostens“. Hier ein Einblick, was aus dem Land aus Milch und Honig geworden ist.




Spectator: Der Libanon, der lebenswerteste gescheiterte Staat der Welt


Blickt man von den Bergen über Beirut hinunter, dann sieht man an den meisten Tagen nicht viel mehr als eine graue Smogdecke, in der die Stadt erstickt. Der Smog kommt von Dieselgeneratoren: Aufgrund von Stromausfällen steht in fast jedem Gebäude des Libanons ein solches. Das liegt nicht daran, dass Israel 2006 eines der wenigen Kraftwerke des Landes bombardiert hat, obwohl das durchaus so war. Vielmehr sind die dauernden Stromausfälle eine Erinnerung für die Libanesen an die Gier, die Bestechlichkeit und die Inkompetenz ihrer Politiker. Mehrere aufeinanderfolgende Regierungen haben es nicht geschafft, neue Kraftwerke zu bauen. Einige sollen nächstes Jahr zwar endlich fertig sein, aber jeder weiß, dass sie nicht ausreichen werden. Für die Libanesen ist klar, wer schuld ist und sie werden auf die „Generatormafia“ verweisen, die mit den Politikern im Geschäft ist und die so viel Geld damit verdienen, dass sich die Dinge nie ändern werden. Die Leute zucken mit den Achseln und nehmen es hin. Seit dem Ende des Bürgerkriegs 1990 kann der Libanon nicht mehr genügend Strom erzeugen, um seinen Bedarf zu decken.

Das Problem ist, dass der Krieg nie wirklich beendet wurde. Die damals verantwortlichen Kriegsparteien sind immer noch da. In Konvois von schwarzen SUVs mit getönten Scheiben rasen sie durch Beirut, herrschen dabei den Verkehr in einer Kakophonie von Sirenen beiseite und lenken dabei unzählige verärgerte Blicke auf sich. Die Spaltungen des Krieges wurden durch ein Abkommen eingefroren, in dem die Macht zwischen den verschiedenen Konfessionen des Landes aufgeteilt wurde: Der Präsident muss ein Christ sein; der Premierminister, ein Sunnit; der Parlamentspräsident, eine Schiit. Die Ministerposten werden paritätisch besetzt, was bedeutet, dass sie selbst in den Fällen offensichtlichster Korruption quasi nicht entlassen werden können.

Ein Freund aus einer der reichsten Familien des Libanon erzählte mir von einem Minister, der Tausende von Dollar verlangt für seine Unterschrift unter jede Genehmigung in seinem Arbeitsbereich, die es aber braucht für die Ausübung von Geschäften in dem Land. Die Firma meines Freundes war der örtliche Partner eines multinationalen Unternehmens und so durfte er die Bestechungsgelder nicht zahlen. „Wir mussten Saad Hariri (den Premierminister) dazu bringen, eine ganze Reihe von Genehmigungen selbst zu unterschreiben.“ Die Familie meines Freundes hat wirklich einen enormen Einfluss in dem Land, aber auch sie konnten den Premierminister nicht jedes Mal bitten, in jedem Fall eine Unterschrift zu leisten. So standen sie bald wieder vor dem Schreibtisch des Ministers und erneut streckte er ungeniert seine Hand aus.

Mein Freund hatte das, was man dort „wasta“ nennt, Verbindungen. Wir selbst bekamen eine Lektion über deren Bedeutung erteilt, als wir letzten Monat umzogen sind und das Internet neu einrichten mussten. Die Büros der libanesischen staatlichen Telefongesellschaft Ogero scheinen in etwa so zu funktionieren, wie man sich den staatlichen Telefonanbieter in Chaucescus Rumänien vorstellt. Nach vier erfolglosen Terminen bei Ogero begannen wir über Alternativen nachzudenken und uns fiel ein, dass wir jemanden kennen, der jemanden kennt, der in der Zentrale des Unternehmens arbeitet. Bingo! Zwei Ingenieure wurden zu uns geschickt. Der Jüngere und kompetentere der beiden erklärte uns, dass Ogeros Netzkarte klar zeigen würde, wie auch unser Stadtteil Gemmayzeh an das neue Glasfasernetz angeschlossen ist. Gleichzeitig kam aber ein nein zum Anschluss, da es hier noch nicht eingeschaltet wurde. Man wartet noch, sagte er, damit einige lokale Politiker kurz vor der nächsten Wahl ein blitzschnelles neues Internet für alle versprechen können. Er hat all das satt und wird nach Kanada auswandern. Der Ältere wiederum meinte, dass wir das Internet theoretisch über die Telefonleitung beziehen könnten, allerdings darf er nur einen Meter Kabel installieren, während die Anschlussdose 100 Meter entfernt liegt. Könntest du nicht einfach das Kabel da drüben verlegen, fragen wir und zeigen auf die Box. Da antwortet er: „Kennst du den Premierminister des Libanon?“ Es war kein Scherz.

Zufällig treffe ich danach einen Assistenten des Premierministers auf einer Dinnerparty der gehobenen Sorte, zu der ich eingeladen wurde. Für einen Moment denke ich tatsächlich darüber ihn zu fragen, ob er uns nicht mit unserer Telefonleitung weiterhelfen könnte. Die Gespräche des Abends drehen sich in erster Linie darum, wonach sich die Wirtschaft des Libanons an einem Scheideweg befindet und damit vielleicht auch das fragile System der Machtteilung zusammenbrechen könnte, das die Konflikte in dem Land seit dem Bürgerkrieg eingefroren hat. Auf den libanesischen Straßen trifft man derweil auf immer mehr Wut. Proteste gehen um, weil der Staat nicht in einmal in der Lage ist, einfache Aufgaben wie die ordnungsgemäße Entsorgung von Abfällen zu erfüllen. (Das Motto der Demonstranten: „Du stinkst!“) Alle am Tisch sind sich einig, dass die Libanesen immer einen Weg finden, mit oder ohne den Staat auszukommen. Und trotz einiger Unannehmlichkeiten bleibt der Libanon ein wunderbarer Ort zum Leben: Die Strände, die Berge, die Restaurants, das Nachtleben. Ein ehemaliger Abgeordneter, der beim Dinner dabei ist kommentiert es mit: „Wir mögen ein gescheiterter Staat sein, aber wir sind der beste gescheiterte Staat der Welt.“

Egal wie schlimm es noch kommen mag, so glauben die meisten der Libanesen, mit denen ich spreche, zumindest würden sie nicht ein weiteres Mal zu einem Krieg mit Israel hineingezogen. Die Hisbollah, die schiitische Miliz, die den Süden des Libanons im Griff hat, soll zwar bis zu 150.000 Raketen in ihrem Besitz haben, die alle in Richtung Israel zeigen, aber sie wird diese nie benutzen, so das Argument, denn ihre Anführer seien sich darüber im klaren, wie verheerend die Reaktion der Israelis gegen sie wäre. Sollte also der Iran von den USA - und damit von Israel und Saudi-Arabien - angegriffen werden, dann würde sich die Hisbollah heraushalten. Das ist eine beruhigende Illusion. Wahrscheinlich ist es tatsächlich so, dass die Hisbollah keine blutige Konfrontation mit Israel haben will, möglicherweise bleibt ihr trotzdem keine andere Wahl. Sie folgt Teherans Befehlen, und die Priorität für Irans Regime besteht in dessen Überleben, koste es was es wolle.

Ob sich Großbritannien sich einem derartigen Angriff auf den Iran anschließen würde, wird von unserem neuen Premierminister abhängen. Ich habe Boris Johnson nur einmal getroffen, als ich neben ihm vor einem Massengrab im Kosovo stand. Boris sagte damals in etwa: „Ein Scheißgeschäft, nicht wahr?“, während um uns herum die Leichen von etwa 80 ethnischen Albanern ausgegraben wurden, die zu Opfern von serbischen Paramilitärs wurden. Johnson hatte damals von Belgrad aus für den Daily Telegraph über die Bombardierung Jugoslawiens durch die NATO berichtet. Die Leute vergessen manchmal, dass er der erste britische Premierminister seit James Callaghan ist, der einen Krieg aus nächster Nähe gesehen hat. Callaghan war zwar Marineoffizier, während Johnson nur einen Stift in der Hand hielt. Trotzdem aber weiß er seitdem um die Auswirkungen einer aus 10 Kilometern Höhe abgeworfenen Bombe auf den menschlichen Körper. Ich frage mich, ob diese Erfahrung seine Entscheidungen über den Iran beeinflussen wird.
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