Die fleißigsten im Land: Alte Türkinnen (Bildquelle) |
Auf der Suche
nach erzählenswertem bin ich über
eine Liste der OECD aus dem Jahr 2010 gestolpert, in der das
effektive Renteneintrittsalter der 35 OECD Länder nach Geschlecht
aufgeschlüsselt wurde. Auffällig daran sind
dabei nicht so sehr die Abweichungen zwischen dem offiziellen
und dem tatsächlichen Rentenbeginn,
sondern es ist der Ausreißer Türkei. Dort gibt es als
einzigem Land keinen offiziellen Rentenbeginn und gleichzeitig
arbeiten Frauen 5,5 Jahre länger als ihre männlichen
Gegenstücke. Die Frage ist: Warum?
Rente von Südkorea bis Luxemburg
Effektiv am längsten unter den OECD Ländern wird in Südkorea gearbeitet. Dort geht man (und frau) schon heute und ganz
ohne Migrantenschwemme erst mit 70 in Rente. Im Gegensatz zu
Luxemburg am anderen Ende des effektiven Renteneintrittsalters - allerdings mit dem selben offiziellen Renteneintritt von 60 Jahren - wird die Rente in Südkorea einfach
ignoriert und um ein Jahrzehnt überzogen.
In Luxemburg dagegen beginnt der effektive Herbst des Lebens schon mit 58 Jahren und es ist auch eines von nur fünf Ländern, in denen
Männer noch vor den Frauen die Füße hochlegen.
Leider bildet der
Letzeburger Jean-Claude Juncker (63) eine Ausnahme von dieser Regel.
Wobei, angesichts des regelmäßigen Frühschoppens könnte es
durchaus sein, dass er sich bereits in Pension wähnt.
Ansonsten gibt es
keine wirklich nennenswerten Abweichungen zwischen offiziellem und
effektivem Rentenbeginn. Auch die jeweiligen Mittelwerte liegen
relativ eng beieinander und Frauen gehen meist etwas früher in Rente als
Männer, wobei der Abstand nur wenige Monate beträgt. In
Spanien, einem relativen Ausreißer der gelisteten Länder sind es etwa 18 Monate, die Frauen länger an der Werkbank
bleiben müssen.
Die wirklich große Ausnahme in der Liste aber bildet die Türkei. Nicht nur hat das Land als einziges keinen
offiziellen Rentenbeginn für Männlein oder Weiblein. Dort ist es
vielmehr auch so, dass Männer effektiv mit knapp 63 Jahren in Rente gehen und
damit ein ganzes Jahr vor dem OCED Durchschnitt, während die
Türkinnen erst in Rente gehen, wenn sie das 68. Lebensjahr schon überschritten haben.
Länger als die Türkinnen arbeiten nur noch die Mexikanerinnen und die Südkoreanerinnen. Allerdings arbeiten in den beiden letztgenannten Ländern auch die Männer bis weit jenseits der 70, während die Türkinnen erst krasse 66 Monate nach ihren Paschas in Rente gehen dürfen.
Länger als die Türkinnen arbeiten nur noch die Mexikanerinnen und die Südkoreanerinnen. Allerdings arbeiten in den beiden letztgenannten Ländern auch die Männer bis weit jenseits der 70, während die Türkinnen erst krasse 66 Monate nach ihren Paschas in Rente gehen dürfen.
Ich frage mich: Können Türkinnen so viel, oder dürfen sie so wenig?
Wie kommt das nur, dass Türkinnen so viel länger arbeiten müssen?
Leider kann ich an
dieser Stelle nur Vermutungen anstellen. Den Hauptgrund sehe ich in
den beiden Tatsachen begründet, dass die Türkei zum einen kein
offizielles Renteneintrittsalter kennt und damit offenbar über kein
Rentensystem verfügt und zweitens, dass türkische Frauen ihre Paschas im Schnitt um mindestens vier Jahre überleben. Aufgrund der Abwesenheit einer
Alterssicherung sind viele Witwen daher auf ein Arbeitseinkommen
angewiesen, um die restliche Lebenszeit finanzieren zu können.
Als zusätzliches
Problem kommt hinzu, dass die Türkei ebenso wenig über
ein Krankenversicherungssystem verfügt wie über ein Rentensystem - also jenseits der deutschen GKV. Wenn der Ehemann also auf sein Lebensende zugeht und
krank wird, dann muss die meist sehr teure Behandlung privat bezahlt
werden und bekanntlich sind die letzten beiden Lebensjahre die gesundheitlich mit Abstand teuersten.
Aus Liebe und Hoffnung, oder
vielleicht weil die Frau keinen Zugriff auf das Familienbudget hat,
bekommt der sterbenskranke Mann die Behandlung finanziert und
stirbt dann trotzdem. Am Ende hinterlässt er dadurch nicht nur eine trauernde, sondern auch eine bettelarme
Frau, die an ihrem Lebensende noch einmal Geld verdienen gehen muss.
So kommt dann dieser groteske Abstand zustande.
So kommt dann dieser groteske Abstand zustande.
Über die Abwesenheit von Empathie
Sicherlich spielen
in der Angelegenheit noch einige andere Faktoren mit hinein. Den
aufgezeigten Zusammenhang aber halte ich für relevant und ursächlich
für diese Diskrepanz von einem halben Jahrzehnt. So ein Abstand
kommt nicht von ungefähr.
Nun könnte man den
türkischen Staat dafür verantwortlich machen, dass er seinen Alten keine
Altersgrundsicherung zur Verfügung stellt. Das aber würde wie ich meine den falschen treffen. Zum einen, weil so ein System sehr teuer ist und zum anderen, weil eine staatliche Grundsicherung eigentlich nicht notwendig ist.
Denn die Frage der Alterssicherung ist in erster Linie eine persönliche Angelegenheit und
letztlich die Sache der Familie. Sie ist es, die gemeinsam mit dem Betroffenen entscheiden muss, wie damit umgegangen werden soll. Für den türkischen Staat ist also die Familie die wichtigste Instanz, wenn es um den Altenteil seiner Bürger geht.
Dagegen ist nichts einzuwenden, wie ich meine. Vielmehr könnte man es sogar als vorbildlich liberal-konservativ bezeichnen.
Für mich zeigt die
Sache vielmehr, dass an einer anderen Stelle eine Dysfunktionalität vorliegen muss. Es
ist die türkische Gesellschaft und Kultur, die hier ein enormes Defizit aufweist.
An der Oberfläche werden türkische Frauen von ihren Männern und Söhnen bekannterweise zwar gerne überhöht („alles Nutten außer Mutti“; mit türkischem Akzent gesprochen). Darunter aber, wenn es um den wirklich Kern geht, um die Familie, die Sippe und das intergenerationelle Zusammenleben, da versagt das türkische Gesellschaftsmodell in eklatanter Weise.
An der Oberfläche werden türkische Frauen von ihren Männern und Söhnen bekannterweise zwar gerne überhöht („alles Nutten außer Mutti“; mit türkischem Akzent gesprochen). Darunter aber, wenn es um den wirklich Kern geht, um die Familie, die Sippe und das intergenerationelle Zusammenleben, da versagt das türkische Gesellschaftsmodell in eklatanter Weise.
Würde die Frau
etwas zählen für den türkischen Mann, wäre die Mutter wirklich
die wichtigste Frau eines Türken und wäre die Sippe der
bedeutendste Dreh- und Angelpunkt des persönlichen Lebens, ich bin
mir sicher, die Familien würden besser für ihre Ehefrauen und
Mütter sorgen und sie in der entscheidenden finalen
Lebensphase nicht so krass im Stich lassen.
So aber zeigt sich
an dieser kleinen Zahl von 5,5 Jahren der Abgrund einer Machokultur,
die in ihrem Kern nicht solidarisch ist gegenüber dem buchstäblich
Nächsten, sondern kalt, asozial und in blanker Weise darwinistisch.
Ich frage mich
gerade, wie die Sache aussieht bei den Türken in Deutschland. Bei
uns aber zahlen bekanntlich Dritte alles und für alle. Der
Unterschied wird wegtransferiert. Die
Kernphilosophie der türkischen Gesellschaft aber zeigt sich in der
Sache auch bei uns: Wo es geht wird abgezockt
und betrogen.
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