25. Juli 2020

Die Türkei drängtes unbeirrt weiter durch benachbarte Blumenbeete in Richtung des Status einer Hegemonialmacht

"Landbrücke nach Tobruk" (Bildquelle)


Gefira: Die Osmanen kommen!


Der gut orchestrierte Arabische Frühling stürzte in so manchem arabisch geprägten Land die Regierung und so traf es auch den 42 Jahre lang über Libyen herrschenden Muammar Gaddaffi, unter dem das Landes zu den wohlhabendsten in ganz Afrika zählte. Der auf seinen Tod folgende und bis heute andauernde Bürgerkrieg erzeugte ein Machtvakuum, in dem verschiedene Akteure um die Kontrolle über das erdöl- und erdgasreiche Land wetteifern. Nach fast zehn Jahren mit Auseinandersetzungen konnten zwei große Rivalen herauskristallisieren: Die in Tripolis ansässige Einheitsregierung (GNA) und das in Tobruk ansässige Repräsentantenhaus (HOR). Erstere wird von der Türkei und den Vereinten Nationen unterstützt, während letztere von Russland, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi-Arabien und Ägypten unterstützt wird.

Die türkische Beteiligung im Spiel schien die Waage nun endgültig zugunsten der GNA gedreht zu haben. Bis zur Beteiligung Ankaras hatte die zur HOR gehörende libysche Nationalarmee (LNA) unter dem Kommando von General Khalifa Haftar, den größten Teil des Landes erobert und stand kurz vor dem Vorstoß auf Tripolis. Die türkische Intervention kam gerade noch rechtzeitig, um die GNA zu retten und die herannahenden Einheiten der LNA zurückzudrängen. Doch warum ist Ankara so sehr an der Region interessiert?

Libyen (d.h. die Provinzen Tripolitanien, Fezzan und Cyrenaica zusammengenommen) gehörte jahrhundertelang zum Osmanischen Reich, so dass sich die türkischen Entscheidungsträger in natürlicher Weise zur Region hingezogen fühlen, wo es schon einmal eine türkische Herrschaft gab. So versucht die Türkei auch, ihren Einfluss auf dem Balkan auszuweiten - in Bulgarien und Bosnien und Herzegowina mit ihren bedeutenden muslimischen oder türkischen Minderheiten, dazu im überwiegend muslimischen Albanien, in Aserbaidschan im Kaukasus, in Syrien und im Irak und seit kurzem eben auch in Libyen.

Die Türkei unter Präsident Recep Tayyip Erdogan versucht immer intensiver, ihren internationalen Einfluss auszuweiten und sich nach dem Ersten Weltkrieg von den Westmächten auferlegten Zwängen zu befreien, was insbesondere für den Vertrag von Lausanne aus dem Jahr 1923 gilt, der die Kontrolle Ankaras über den Bosporus und die Dardanellen beschränkt, was die Souveränität des Landes über sein Territorium einschränkt. Abschütteln will die Türkei diese Beschränkungen mit Hilfe der Doktrin „Blaue Heimat“ (Mavi Vatan), in deren Rahmen die ausschließliche Wirtschaftszone des Landes vor seiner Küste ausgedehnt werden soll.

Das östliche Mittelmeer soll türkisch werden


Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Ankara große Gebiete des Schwarzen Meeres, der Ägäis und des Mittelmeers als seine Einflusssphären erachtet, die auch als ausschließliche Wirtschaftszonen bezeichnet werden. Damit befindet sich Ankara auf Kollisionskurs mit den beiden Nachbarn Griechenland und Zypern, da unmittelbar vor der türkischen Westküste sehr viele der Inseln zu Griechenland gehören.

In dieses schwelende Feuer gab die Erben des Osmanischen Reiches nun reichlich Öl, indem die Türkei ein Abkommen mit der in Tripolis sitzenden GNA einging, in dessen Rahmen festgelegt wurde, dass sich die jeweiligen ausschließlichen Wirtschaftszonen Libyens und der Türkei im Mittelmeer aneinander grenzen, während der Türkei durch die GNA überdies erlaubt wird, die libyschen Gewässer zu kontrollieren. Offensichtlich hat es Präsident Recep Tayyip Erdogan vor allem auf die libyschen Ölfelder abgesehen, da deren Kontrolle die Abhängigkeit Ankaras von Energielieferungen aus Russland, dem Iran und Irak drastisch reduzieren würde. Eine Pipeline vom Osten Libyens in den Südwesten der Türkei wäre von enormer strategischer Bedeutung.

Ein solcher Schritt jedoch würde mit den anderen Akteuren im Mittelmeerraum kollidieren, die andere Pläne verfolgen. Griechenland, Zypern und Israel beispielsweise unterzeichneten ein Abkommen über die Verlegung ihrer Pipeline durch das östliche Mittelmeer. Damit stehen sich die Interessenhalter in Ankara über Kreuz mit jenen in Athen, Nikosia und Tel Aviv. Dazu würde auch Italien von der Pipeline profitieren, während Frankreich - historisch gesehen - das Mittelmeer als seinen Hinterhof betrachtet. Aber auch Ägypten wurde vom Schritt durch Ankara in Aufregung versetzt: Das Parlament des Landes ermächtigte die Regierung sogar zu einer militärischen Intervention im benachbarten Libyen, falls sich die Situation dort in einer Weise entwickelt, die Kairo als Bedrohung seiner nationalen Interessen betrachten könnte. Dabei wird eine potenzielle Eroberung der Stadt Sirte als Alarmstufe Rot erachtet. Der Konflikt zwischen den libyschen GNA und HOR könnte sich also bald in enen Zusammenstoß zwischen der Türkei und Ägypten ausarten.

Türkische Großmachtfrüchte


Sollte die Türkei tatsächlich die Kontrolle über Libyen erlangen und damit seine Rivalen aus der Region zu verdrängen, dann hätte das Land fortan einen exklusiven Zugang zu Öl und Gas, was beides von der sich entwickelnden türkischen Wirtschaft des Landes dringend benötigt wird. Des weiteren würde die Türkei in dem Fall auch ihren Druck auf die Europäische Union verstärken können, da Ankara dann die Kontrolle über zwei der drei Routen hat wird, über welche die Menschen aus der Dritten Welt auf den europäischen Kontinent strömen. Europas Politiker wären fortan dazu gezwungen, Ankara dauerhaft Geld für das Fernhalten von Menschenmassen von der westlichen Welt zu bezahlen.

Nicht vergessen im Kalkül darf man auch die zahlenmäßig große und größer werdende türkische Minderheit in Deutschland, Belgien und den Niederlanden, deren Loyalität weiterhin ihrem Herkunftsland gilt und nicht den Ländern, deren Staatsbürgerschaft sie besitzen. Auch die militärische Macht der Türkei nimmt stetig zu: Das Land verfügt über Überseestützpunkte in Aserbaidschan, Irak, Syrien, Sudan, Somalia, Albanien und jetzt auch in Libyen. 

Das Land steht auch kurz vor der Einsatzreife seines ersten Flugzeugträgers - der TCG Anadolu. Verbunden mit diesem Mittel zur Machtprojektion ist die Entschlossenheit, die darin ruhende militärische Macht auch zu nutzen. Kürzlich wurde ein französisches Kriegsschiff von einem türkischen Schiff aus dem Gebiet vor der libyschen Küste praktisch verjagt.

Hegemonialdenken


Gegenwärtig hat die Türkei ihre Tentakel in Libyen, Nordsyrien und Irak, Nordzypern und in Albanien ausgebreiet. Sie übt auch viel „Soft Power“ auf dem Balkan aus. Dabei handelt es sich allesamt um Gebiete, die einst vom Osmanischen Reich regiert wurden. 

Allzu wahrscheinlich ist es zwar nicht, dass Präsident Recep Tayyip Erdogan oder seine Nachfolger die territoriale Reichweite des alten Osmanischen Reiches wiederherstellen werden, indem sie die Regionen in einen Superstaat mit Ankara als Hauptstadt eingliedern. Vielmehr strebt die Türkei die Schaffung eines Rings abhängiger Staaten an wie es etwa das deutsche Mitteleuropa darstellt, oder die Europäische Union für Deutschland und Frankreich, oder auch die Satelliten der einstigen Sowjetunion. All diese Länder sind heute mindestens in ihrer Region die hegemonialen Supermächte, und genau das wäre auch ein wiederauferstandenes Osmanische Reich.


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