„Es war ein heller, kalter Tag im April, und die Uhren schlugen dreizehn.“ (Bildquelle) |
George Orwells 1984 war gedacht als eine Warnung an die Welt vor den Schrecken des Kommunismus. Lange Zeit hat sie gewirkt und so hat keine 40 Jahre gedauert, sondern fast doppelt so lange, bis sie nun endlich verklungen ist. Doch immer öfters bemerken aufmerksame Bewohner des Westens als Beobachter ihrer Gesellschaften, wie Orwells Alptraum zunehmend in unserem Alltag einkehrt.
Dark Moon: Wenn die Uhren Dreizehn schlagen - Alltag in der orwellschen Dystopie
„Er entdeckte, dass er, während er hilflos saß und grübelte, auch geschrieben hatte...... Und es war nicht mehr die gleiche verkrampfte, unangenehme Handschrift wie zuvor. Sein Stift schob sich gleitend über das saubere Papier und es hinterließ in großen, klaren Lettern – NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER.“ George Orwell, 1984, Kap. 1
Vor 70 Jahren hat
der britische Schriftsteller George Orwell in seinem bahnbrechenden
Werk 1984 die Essenz dessen festgehalten, wie Technologie die
Fähigkeit innehat, unser Schicksale zu bestimmen. Die Tragödie
unserer Zeit besteht darin, dass wir seine Warnung nicht beachtet
haben. Egal wie oft ich 1984 las, das Gefühl der totalen
Hilflosigkeit und Verzweiflung, das sich durch Orwells Meisterwerk
zieht, überrascht mich immer wieder.
Obwohl das Buch
gemeinhin als „dystopischer futuristischer Roman“ bezeichnet
wird, ist es eigentlich eine Horrorgeschichte von weitaus größerem
Ausmaß als alles, was aus den Köpfen von produktiven
Schriftstellern wie Stephen King oder Dean Koontz entstammt. Der
Grund ist einfach. Die alptraumhafte Welt, in der Protagonist Winston
Smith seine Heimat nennt, ein Ort namens Ozeanien, ist nur allzu
leicht vorstellbar. Es ist der Mensch, im Gegensatz zu einem
imaginären Clown oder Dämon, der das böse Monster ist.
Auf den ersten
Seiten des Buches zeigt Orwell eine unheimliche Fähigkeit,
zukünftige technologische Trends vorherzusehen. Er beschreibt die
spartanische Londoner Wohnung des Protagonisten Winston Smith und
erwähnt ein Instrument namens „Telescreen“, das dem tragbaren
„Smartphone“, das heute von Milliarden von Menschen auf der
ganzen Welt begeistert genutzt wird, auffallend ähnlich ist.
Orwell beschreibt
das allgegenwärtige Gerät als eine „längliche Metallplatte wie
ein abgestumpfter Spiegel“, die an der Wand befestigt ist und
„gedimmt werden konnte, aber es gab keine Möglichkeit, sie
vollständig abzuschalten“. Kommt das jemandem bekannt vor? Es ist
dieses Gerät mit dem die Herrscher Ozeaniens in der Lage ist, die
Handlungen ihrer Bürger zu jeder Minute und an jedem Tag zu
überwachen.
Gleichzeitig durften
die Bewohner von 1984 nie vergessen, dass sie in einem totalitären
Überwachungsstaat lebten, der unter der Kontrolle der gefürchteten
Gedankenpolizei stand. Massive Poster mit dem Slogan „Der große
Bruder sieht dich“ waren genauso verbreitet wie unsere modernen
Werbetafeln es sind. Heute erscheinen derartige zaghafte Warnungen
vor einer Überwachung jedoch überflüssig, Berichte über das
unbefugte Ausspähen finden immer noch hin und wieder ihren Weg in
die Medien, um dann mit einem beiläufigen Achselzucken aufgenommen
werden.
Pünktlich zum
Jahrestag 1984 wurde berichtet, dass die National Security Agency
(NSA) erneut illegal Aufzeichnungen über Telefonate und SMS von
US-Bürgern gesammelt hat.
Eine weitere heutige
Kontrollmethode, auf die bereits 1984 anspielt war ein Sprachsystem
namens „Neusprech“ als einem Versuch, die Sprache auf
„Doppeldenk“ zu reduzieren und dem Ziel, Ideen und Gedanken zu
kontrollieren. So wurde beispielsweise der Begriff „Joycamp“,
einem nicht weniger euphemistischen Kürzel als etwa „Patriot Act“
zur Beschreibung von Zwangsarbeitslagers verwendet, während im Buch
eine „doppelplusgute Redeente“ ein Lob für Redner darstellt,
wenn diese die politische Situation richtig „gequakt“ haben.
Ein weiterer Begriff
aus dem Neusprech namens „Facecrime“ bietet eine weitere
bemerkenswerte Parallele zu unserer heutigen Welt. Definiert als
„einen unangemessenen Gesichtsausdruck zu zeigen“ (z.B. ungläubig
auszusehen, wenn ein Sieg verkündet wurde), war selbst eine
strafbare Handlung“. Nicht wenige Leser werden bei dem Begriff
„Facecrime“ sofort mit „Facebook“ verbinden, der Sozialen
Medienplattform, die regelmäßig Autoren von Inhalten zensiert, weil
sie Gedanken äußern, die sie für „hasserfüllt“ oder
unangemessen hält. Was Nutzer der Sozialen Medien brauchen ist eine
orwellsche Lektion in „Crimestop“, die Orwell als „die
Fähigkeit definierte, wie aus dem Bauch heraus sofort innezuhalten,
wenn sie an der Schwelle zu einem gefährlichen Gedanken stehen“.
Diese so genannten inakzeptablen „gefährlichen Gedanken“ wurden
natürlich nicht durch den Willen des Volkes, sondern durch seine
Herrscher bestimmt.
Und ja, es wird noch
schlimmer.
Erst diese Woche
stimmte Mark Zuckerbergs „privates Unternehmen“ zu, den
französischen Behörden die „Identifikationsdaten“ von
Facebooknutzern zu übermitteln, die im Verdacht stehen, „Hassrede“
auf der Plattform zu verbreiten, einem für das Silicon Valley
beispiellosen Schritt.
Ein weiteres
modernes Phänomen, das gut in Orwells Ozeanien passen würde ist die
Besessenheit von der politischen Korrektheit, die definiert wird als
„die Vermeidung von Ausdrucks- oder Handlungsformen, die Gruppen
von Menschen, die sozial benachteiligt oder diskriminiert sind,
ausschließen, marginalisieren oder beleidigen“. Aber da sich heute
so viele Menschen mit einer marginalisierten Gruppe identifizieren
hat dies die intelligente Diskussion kontroverser Ideen - nicht
zuletzt auf dem Campus der US-Universitäten - äußerst schwierig,
wenn nicht sogar geradezu gefährlich gemacht. Orwell muss mit großer
Überraschung auf all diesen Wahnsinn herabblicken, denn er hat die
Welt mit der bestmöglichen Warnung versorgt, um all das zu
verhindern.
Für jeden, der
Erwartungen an ein glückliches Ende 1984 hegt, sei auf eine schwere
Enttäuschung vorbereitet. Obwohl es Winston Smith gelingt, endlich
Liebe zu erfahren, wird seine kurze Romanze - wie eine zarte Blume,
die in einem Asphaltfeld Wurzeln schlagen konnte - von den Behörden
mit schockierender Brutalität zerschlagen. Bei Smith reicht es
jedoch nicht, dass er die Beziehung lediglich selbst zerstört
sondern ist gezwungen, seine Julia zu verraten, nachdem er die
schlimmste denkbare Folter im „Ministerium für Liebe“ erleiden
musste.
Einige weitere Anmerkungen
Orwell bezieht sich
im Buch auf die berühmte „Rattenfolter“.
Winston Smith, der Protagonist des Romans, hat Angst vor Ratten. Von
den Behörden verhaftet, wird Winston zur „Umprogrammierung“ in
Raum 101 im Ministerium für Liebe verschleppt. Ein mit Riesenratten
gefüllter Käfig wird über seinen Kopf gelegt. Es gibt einen
Bildschirm, der die Ratten auf der einen Seite des Käfigs von
Winstons Gesicht auf der anderen Seite trennt. Wenn der Bildschirm
angehoben wird, werden sich die ausgehungerten Ratten auf Winstons
Gesicht stürzen und beginnen daran zu nagen – es ist ihre einzige
Nahrungsquelle – und versuchen dabei hektisch, ihrem Käfig zu
entkommen.
Es liegt an Winston,
mit dem Großen Bruder zusammenzuarbeiten, indem er die Geheimnisse
seiner Nächsten und Liebsten verrät, indem er als Informant und
Name und Sünden so vieler anderer wie möglich preisgibt
einschließlich jener von Unschuldigen, und indem er zugibt, dass
sogar Lügen wahr sind, und wenn der Große Bruder sagt 2 + 2 = 5,
dann ist auch das für ihn war. Die Weigerung zur Kooperation mit dem
Großen Bruder hat jedes Mal das Anheben des Bildschirms zur Folge,
woraufhin die Ratten losgelassen werden, die sich dann über sein
Gesicht hermachen - eine Folter, die so unvorstellbar grausam ist,
dass sie Dante nicht einmal in den Sinn kam, als er sich die Qualen
der Hölle in seinem Inferno auf die Leinwand brachte.
Die Rattenfolter in
Orwells Roman ist eine Variation jene Rattenfolter, die in der
Sowjetunion während Stalins Terrorherrschaft verwendet wurde, sie
wurde durchgeführt von speziell dafür eingestellten chinesischen
Folterern, die sie hauptsächlich bei christlichen Geistlichen und
Dissidenten anwandten. (Scrollen Sie nach unten zu dem Bild mit der
Rattenfolter hier: Die Verbrechen der Bolschewiki.)
Winston bricht
zusammen und fleht um Gnade, als er von der Rattenfolter bedroht wird
und verrät dabei seine wahre Liebe, indem er sagt: „Lass es Julia
sein - nicht mich!“. Es ist das Zeichen, dass er endlich gebrochen
wurde. Vollständig entmenschlicht. Etwas besser als ein menschliches
Gemüse, ein zombifizierter Hohlmensch. Als er Julia das nächste Mal
sieht, sieht er aus dem Blick in ihren Augen, dass sie weiß, wie er
sie verraten hat. Und wie auch sie ihn verraten hat.
Um mit T.S. Eliot zu
fragen: „Mit einem derartigen Wissen, wie ist eine Vergebung
möglich?“
In Orwells eigenen
denkwürdigen Worten - im letzten Absatz seines großen Buches -
schaut Winston Smith in das Gesicht des Großen Bruders mit dem
demütigen Ausdruck eines Mannes, der auf die harte Tour lernen
durfte, dass zwei plus zwei tatsächlich fünf sind - wenn der Große
Bruder es so will.
„Er blickte in das riesige Gesicht. Vierzig Jahre brauchte er um zu erfahren, welche Art von Lächeln unter dem dunklen Schnurrbart verborgen war. O grausames, unnötiges Missverständnis! O hartnäckiger, eigenwilliger Exilant aus der liebenden Brust! Zwei nach Gin duftende Tränen sickerten über die Seiten seiner Nase. Aber es war alles in Ordnung, alles war in Ordnung, der Kampf war beendet. Er hatte den Sieg über sich selbst errungen. Er liebte den Großen Bruder.“
Hier
gibt es ein Diagramm, das die soziale Struktur der Orwellschen
Dystopie darstellt. Sie entspricht so ziemlich jener sozialen
Struktur, die wir heute in unserer sogenannten „realen Welt“
haben.
Wir sind die
„Proleten“, etwa 85 Prozent der Bevölkerung: Ein demoralisiertes
und erbärmliches Lumpenpack aus finanziellen Leibeigenen, die in die
Irre geführt wurden und denen Glauben gemacht wird, dass wir in
einer Demokratie leben. An der Spitze dieser Pyramide stehen die
reichsten und mächtigsten Menschen der Welt, und sie werden
unterstützt von einer elitären Oligarchie, die jeden ihrer Wünsche
erfüllt - und die für ihre Grausamkeit angemessen belohnt werden,
indem sie alle aus der Unterdrückung entstehenden Vorzüge genießen.
Die Utopie der Reichen entspricht der planvollen Dystopie der Armen.
Wir leben in einer Höllenwelt von tyrannischen Herren und
unterwürfigen Sklaven, jener des Raubtiers und seiner Beute, der
dicken Fische, die nicht zögern, die kleinen Fische nach Gusto zu
fressen.