8. Juli 2019

Orwells Alltag aus 1984 - so weit entfernt und doch beängstigend nahe


„Es war ein heller, kalter Tag im April, und die Uhren schlugen dreizehn.“ (Bildquelle)

George Orwells 1984 war gedacht als eine Warnung an die Welt vor den Schrecken des Kommunismus. Lange Zeit hat sie gewirkt und so hat keine 40 Jahre gedauert, sondern fast doppelt so lange, bis sie nun endlich verklungen ist. Doch immer öfters bemerken aufmerksame Bewohner des Westens als Beobachter ihrer Gesellschaften, wie Orwells Alptraum zunehmend in unserem Alltag einkehrt.




Dark Moon: Wenn die Uhren Dreizehn schlagen - Alltag in der orwellschen Dystopie




„Er entdeckte, dass er, während er hilflos saß und grübelte, auch geschrieben hatte...... Und es war nicht mehr die gleiche verkrampfte, unangenehme Handschrift wie zuvor. Sein Stift schob sich gleitend über das saubere Papier und es hinterließ in großen, klaren Lettern – NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER.“ George Orwell, 1984, Kap. 1


Vor 70 Jahren hat der britische Schriftsteller George Orwell in seinem bahnbrechenden Werk 1984 die Essenz dessen festgehalten, wie Technologie die Fähigkeit innehat, unser Schicksale zu bestimmen. Die Tragödie unserer Zeit besteht darin, dass wir seine Warnung nicht beachtet haben. Egal wie oft ich 1984 las, das Gefühl der totalen Hilflosigkeit und Verzweiflung, das sich durch Orwells Meisterwerk zieht, überrascht mich immer wieder.

Obwohl das Buch gemeinhin als „dystopischer futuristischer Roman“ bezeichnet wird, ist es eigentlich eine Horrorgeschichte von weitaus größerem Ausmaß als alles, was aus den Köpfen von produktiven Schriftstellern wie Stephen King oder Dean Koontz entstammt. Der Grund ist einfach. Die alptraumhafte Welt, in der Protagonist Winston Smith seine Heimat nennt, ein Ort namens Ozeanien, ist nur allzu leicht vorstellbar. Es ist der Mensch, im Gegensatz zu einem imaginären Clown oder Dämon, der das böse Monster ist.

Auf den ersten Seiten des Buches zeigt Orwell eine unheimliche Fähigkeit, zukünftige technologische Trends vorherzusehen. Er beschreibt die spartanische Londoner Wohnung des Protagonisten Winston Smith und erwähnt ein Instrument namens „Telescreen“, das dem tragbaren „Smartphone“, das heute von Milliarden von Menschen auf der ganzen Welt begeistert genutzt wird, auffallend ähnlich ist.

Orwell beschreibt das allgegenwärtige Gerät als eine „längliche Metallplatte wie ein abgestumpfter Spiegel“, die an der Wand befestigt ist und „gedimmt werden konnte, aber es gab keine Möglichkeit, sie vollständig abzuschalten“. Kommt das jemandem bekannt vor? Es ist dieses Gerät mit dem die Herrscher Ozeaniens in der Lage ist, die Handlungen ihrer Bürger zu jeder Minute und an jedem Tag zu überwachen.

Gleichzeitig durften die Bewohner von 1984 nie vergessen, dass sie in einem totalitären Überwachungsstaat lebten, der unter der Kontrolle der gefürchteten Gedankenpolizei stand. Massive Poster mit dem Slogan „Der große Bruder sieht dich“ waren genauso verbreitet wie unsere modernen Werbetafeln es sind. Heute erscheinen derartige zaghafte Warnungen vor einer Überwachung jedoch überflüssig, Berichte über das unbefugte Ausspähen finden immer noch hin und wieder ihren Weg in die Medien, um dann mit einem beiläufigen Achselzucken aufgenommen werden.

Pünktlich zum Jahrestag 1984 wurde berichtet, dass die National Security Agency (NSA) erneut illegal Aufzeichnungen über Telefonate und SMS von US-Bürgern gesammelt hat.

Eine weitere heutige Kontrollmethode, auf die bereits 1984 anspielt war ein Sprachsystem namens „Neusprech“ als einem Versuch, die Sprache auf „Doppeldenk“ zu reduzieren und dem Ziel, Ideen und Gedanken zu kontrollieren. So wurde beispielsweise der Begriff „Joycamp“, einem nicht weniger euphemistischen Kürzel als etwa „Patriot Act“ zur Beschreibung von Zwangsarbeitslagers verwendet, während im Buch eine „doppelplusgute Redeente“ ein Lob für Redner darstellt, wenn diese die politische Situation richtig „gequakt“ haben.

Ein weiterer Begriff aus dem Neusprech namens „Facecrime“ bietet eine weitere bemerkenswerte Parallele zu unserer heutigen Welt. Definiert als „einen unangemessenen Gesichtsausdruck zu zeigen“ (z.B. ungläubig auszusehen, wenn ein Sieg verkündet wurde), war selbst eine strafbare Handlung“. Nicht wenige Leser werden bei dem Begriff „Facecrime“ sofort mit „Facebook“ verbinden, der Sozialen Medienplattform, die regelmäßig Autoren von Inhalten zensiert, weil sie Gedanken äußern, die sie für „hasserfüllt“ oder unangemessen hält. Was Nutzer der Sozialen Medien brauchen ist eine orwellsche Lektion in „Crimestop“, die Orwell als „die Fähigkeit definierte, wie aus dem Bauch heraus sofort innezuhalten, wenn sie an der Schwelle zu einem gefährlichen Gedanken stehen“. Diese so genannten inakzeptablen „gefährlichen Gedanken“ wurden natürlich nicht durch den Willen des Volkes, sondern durch seine Herrscher bestimmt.

Und ja, es wird noch schlimmer.

Erst diese Woche stimmte Mark Zuckerbergs „privates Unternehmen“ zu, den französischen Behörden die „Identifikationsdaten“ von Facebooknutzern zu übermitteln, die im Verdacht stehen, „Hassrede“ auf der Plattform zu verbreiten, einem für das Silicon Valley beispiellosen Schritt.

Ein weiteres modernes Phänomen, das gut in Orwells Ozeanien passen würde ist die Besessenheit von der politischen Korrektheit, die definiert wird als „die Vermeidung von Ausdrucks- oder Handlungsformen, die Gruppen von Menschen, die sozial benachteiligt oder diskriminiert sind, ausschließen, marginalisieren oder beleidigen“. Aber da sich heute so viele Menschen mit einer marginalisierten Gruppe identifizieren hat dies die intelligente Diskussion kontroverser Ideen - nicht zuletzt auf dem Campus der US-Universitäten - äußerst schwierig, wenn nicht sogar geradezu gefährlich gemacht. Orwell muss mit großer Überraschung auf all diesen Wahnsinn herabblicken, denn er hat die Welt mit der bestmöglichen Warnung versorgt, um all das zu verhindern.

Für jeden, der Erwartungen an ein glückliches Ende 1984 hegt, sei auf eine schwere Enttäuschung vorbereitet. Obwohl es Winston Smith gelingt, endlich Liebe zu erfahren, wird seine kurze Romanze - wie eine zarte Blume, die in einem Asphaltfeld Wurzeln schlagen konnte - von den Behörden mit schockierender Brutalität zerschlagen. Bei Smith reicht es jedoch nicht, dass er die Beziehung lediglich selbst zerstört sondern ist gezwungen, seine Julia zu verraten, nachdem er die schlimmste denkbare Folter im „Ministerium für Liebe“ erleiden musste.



Einige weitere Anmerkungen



Orwell bezieht sich im Buch auf die berühmte „Rattenfolter“. Winston Smith, der Protagonist des Romans, hat Angst vor Ratten. Von den Behörden verhaftet, wird Winston zur „Umprogrammierung“ in Raum 101 im Ministerium für Liebe verschleppt. Ein mit Riesenratten gefüllter Käfig wird über seinen Kopf gelegt. Es gibt einen Bildschirm, der die Ratten auf der einen Seite des Käfigs von Winstons Gesicht auf der anderen Seite trennt. Wenn der Bildschirm angehoben wird, werden sich die ausgehungerten Ratten auf Winstons Gesicht stürzen und beginnen daran zu nagen – es ist ihre einzige Nahrungsquelle – und versuchen dabei hektisch, ihrem Käfig zu entkommen.

Es liegt an Winston, mit dem Großen Bruder zusammenzuarbeiten, indem er die Geheimnisse seiner Nächsten und Liebsten verrät, indem er als Informant und Name und Sünden so vieler anderer wie möglich preisgibt einschließlich jener von Unschuldigen, und indem er zugibt, dass sogar Lügen wahr sind, und wenn der Große Bruder sagt 2 + 2 = 5, dann ist auch das für ihn war. Die Weigerung zur Kooperation mit dem Großen Bruder hat jedes Mal das Anheben des Bildschirms zur Folge, woraufhin die Ratten losgelassen werden, die sich dann über sein Gesicht hermachen - eine Folter, die so unvorstellbar grausam ist, dass sie Dante nicht einmal in den Sinn kam, als er sich die Qualen der Hölle in seinem Inferno auf die Leinwand brachte.

Die Rattenfolter in Orwells Roman ist eine Variation jene Rattenfolter, die in der Sowjetunion während Stalins Terrorherrschaft verwendet wurde, sie wurde durchgeführt von speziell dafür eingestellten chinesischen Folterern, die sie hauptsächlich bei christlichen Geistlichen und Dissidenten anwandten. (Scrollen Sie nach unten zu dem Bild mit der Rattenfolter hier: Die Verbrechen der Bolschewiki.)

Winston bricht zusammen und fleht um Gnade, als er von der Rattenfolter bedroht wird und verrät dabei seine wahre Liebe, indem er sagt: „Lass es Julia sein - nicht mich!“. Es ist das Zeichen, dass er endlich gebrochen wurde. Vollständig entmenschlicht. Etwas besser als ein menschliches Gemüse, ein zombifizierter Hohlmensch. Als er Julia das nächste Mal sieht, sieht er aus dem Blick in ihren Augen, dass sie weiß, wie er sie verraten hat. Und wie auch sie ihn verraten hat.

Um mit T.S. Eliot zu fragen: „Mit einem derartigen Wissen, wie ist eine Vergebung möglich?“

In Orwells eigenen denkwürdigen Worten - im letzten Absatz seines großen Buches - schaut Winston Smith in das Gesicht des Großen Bruders mit dem demütigen Ausdruck eines Mannes, der auf die harte Tour lernen durfte, dass zwei plus zwei tatsächlich fünf sind - wenn der Große Bruder es so will.

„Er blickte in das riesige Gesicht. Vierzig Jahre brauchte er um zu erfahren, welche Art von Lächeln unter dem dunklen Schnurrbart verborgen war. O grausames, unnötiges Missverständnis! O hartnäckiger, eigenwilliger Exilant aus der liebenden Brust! Zwei nach Gin duftende Tränen sickerten über die Seiten seiner Nase. Aber es war alles in Ordnung, alles war in Ordnung, der Kampf war beendet. Er hatte den Sieg über sich selbst errungen. Er liebte den Großen Bruder.“

Hier gibt es ein Diagramm, das die soziale Struktur der Orwellschen Dystopie darstellt. Sie entspricht so ziemlich jener sozialen Struktur, die wir heute in unserer sogenannten „realen Welt“ haben.

Wir sind die „Proleten“, etwa 85 Prozent der Bevölkerung: Ein demoralisiertes und erbärmliches Lumpenpack aus finanziellen Leibeigenen, die in die Irre geführt wurden und denen Glauben gemacht wird, dass wir in einer Demokratie leben. An der Spitze dieser Pyramide stehen die reichsten und mächtigsten Menschen der Welt, und sie werden unterstützt von einer elitären Oligarchie, die jeden ihrer Wünsche erfüllt - und die für ihre Grausamkeit angemessen belohnt werden, indem sie alle aus der Unterdrückung entstehenden Vorzüge genießen. Die Utopie der Reichen entspricht der planvollen Dystopie der Armen. Wir leben in einer Höllenwelt von tyrannischen Herren und unterwürfigen Sklaven, jener des Raubtiers und seiner Beute, der dicken Fische, die nicht zögern, die kleinen Fische nach Gusto zu fressen.


Vielen Dank an den Leser Tom für das Bereitstellen der Übersetzung!