13. April 2019

Die Geschehen auf den Weltmärkten interpretiert aus der Perspektive von George Soros „Reflexivitätstheorie“


Das Multitalent aus Budapest (Bildquelle)

Bis vor wenigen Jahren hielt ich George Soros für einen ziemlich brillanten Finanzmanager und nur für das. Der Erfolg gab ihm recht und nur wenige konnten über die Jahrzehnte mit ihm mithalten beim Geld vermehren. Seine Idee über die Funktionsweise der Märkte hat Soros dabei in einem Buch beschrieben und als „Reflexivität“ bezeichnet. Leider gerieten seine Meriten in dieser Hinsicht in den Hintergrund angesichts seiner dubiosen Aktivitäten auf dem Politmarkt. Zur Abwechslung gibt es an dieser Stelle einmal etwas, das nur von George Soros, dem Finanzmanager handelt.


Real Investment Advice: Die Reflexivität findet sich in der Ertragskurve wie überall



Der Name George Soros ist so bekannt, wie der Name eines Hedge Fonds Manager überhaupt bekannt sein kann. Er ist legendär für seine Milliarden, er „sprengte“ die Bank of England und genießt den Ruf, der Kopf einer global agierenden linken politischen Verschwörung zu sein. Für mich jedoch besteht Soros beeindruckendste Leistung in seiner Theorie der Reflexivität. Er beschrieb sie in seinem Buch „Die Alchemie der Finanzen“ und heute sehe ich nur noch überall Reflexivität. Es ist sogar so, dass wir wir uns gerade in diesem Moment, in dem ich diese Zeilen schreibe, inmitten eines reflexiven Ereignisses epochaler Ausmaße befinden.

Auch das Buch selbst nicht gerade spannend zu lesen war, so begeisterte mich doch die darin vorgestellte Reflexivitätstheorie. Heute ist sie allgemein anerkannt, allerdings der Ansatz zum Zeitpunkt der Veröffentlichung 1987 wirklich bahnbrechend und höchst umstritten. Ich bin auch alles andere als überrascht, dass es mit Soros eine philosophische denkende Person brauchte, um so mutig gegen die übereifrigen Mathematiker zu kämpfen, die immer mehr das Geschehen auf den Märkten beherrschten. Reflexivität ist dabei alles andere als eine saubere und ordentliche Theorie. Allerdings erscheint deren potenzielle Erklärungskraft größer zu sein als vieles andere.



Was ist Reflexivität?



Im Kern besteht die Reflexivitätstheorie aus der Beschreibung von Rückkopplungsschleifen. Danach beeinflusst das Verhalten der Marktteilnehmer von heute die Ergebnisse von morgen, wobei für dies für Soros auch jenseits der Märkte relevant ist. Die Theorie steht damit voll im Widerspruch zur Efficient Market Hypothesis (EMH) und der damit verbundenen Theorie rationaler Erwartungen, die im modernen Finanzdenken dominieren. Nach dieser Orthodoxie spiegeln die Marktpreise alle aktuellen und bekannten Informationen wider; der Handel als Anpassungsmechanismus ist sinnlos. Das Auftreten von Hochs und Tiefs steht damit im Gegensatz zu EMH, wobei diese Preisbewegungen aber eine Alltäglichkeit sind. Die Reflexivität füllt diese Lücke und bietet meiner Meinung nach eine plausiblere Erklärung für das Auf und Ab an den Märkten.

„Ich behaupte, dass die Finanzmärkte immer in dem Sinne falsch sind, als dass sie mit einer vorherrschenden Verzerrung arbeiten, wobei sich diese Verzerrung selbst bestätigen kann, da sie nicht nur die Marktpreise, sondern auch die so genannten Fundamentaldaten beeinflusst, die sich Marktpreise widerspiegeln sollen.“ (George Soros, Die Alchemie der Finanzen)

Reflexivität als Modell für das Marktverhalten wird heute von immer mehr Akteuren akzeptiert. Meist wird es als Komplexitätstheorie, komplexe adaptive Systemanalyse oder ähnlichem bezeichnet, wobei sowohl die Forschung in dieser Richtung als auch der Status des Ansatzes insgesamt populärer wird. (Bitte beachten Sie, dass ich für den Rest dieses Artikels "Reflexivität" verwenden werde, wenn ich auf auf diesen Analysetypus als ganzes verweise.) Sicherlich gibt es noch viele Vertreter, die der EMH anhängen, was vor allem auf die institutionelle Trägheit und die mathematische Sauberkeit des Modells zurückzuführen ist. Reflexivität dagegen erfordert eine unordentliche Abstraktion und die Akzeptanz von Unbekannten. Sicherlich eignet sich die EMH als Instrument zur Annäherung an das Marktverhalten, allerdings ist sie kaum mehr als das. Die Reflexivität im Gegensatz leistet bei weitem mehr, obwohl deren Umsetzung in der Praxis alles andere als profan ist.

„Der Kern der Debatte liegt darin, ob wir Investoren als rational, gut informiert und homogen erachten sollten – wie es derzeit im Standardmodell für Kapitalmärkte der Fall ist - oder ob sie nicht eher potenziell irrational handeln, weil sie mit unvollständigen Informationen arbeiten und sich die Akteure basierend auf unterschiedlichen Entscheidungsregeln handeln. Letztere Eigenschaften sind Teil eines relativ neu artikulierten Phänomens, das Forscher am Santa Fe Institute und anderswo als komplexe adaptive Systeme bezeichnen.“ (Michael J. Mauboussin, Revisiting Market Efficiency: The Stock Market as a Complex Adaptive System)

Nach Mauboussins Forschungsergebnissen lassen sich mit Hilfe der Reflexivität eine Reihe von wesentlichen Defiziten beheben, die der EMH zugrunde liegen. Erstens erklärt es besser die „dicken Enden“ der Renditeverteilungen (sprich Hochs und Tiefs), während die EMH davon ausgeht, dass Renditen insgesamt normalverteilt sind, was die historischen Zahlen allerdings nicht bestätigen. Die Reflexivität zeigt auch, wie Renditen unter bestimmten Bedingungen dauerhaft sein können, anstatt dem „Zufallsprinzip“ der EMH zu folgen. Es zeigt ebenfalls, wie sich die verschiedenen Anlegermeinungen im Laufe der Zeit ändern können, und warum die meisten Portfoliomanager weniger wachsen als der Markt, während einige wenige dagegen weit überproportional wachsen. Auch hier weist die EMH eine große Erklärungslücke auf.

Seitdem ich mich mehr mit der Idee der Reflexivität vertraut gemacht habe sehe ich schlicht und ergreifend überall die Reflexivität am Werk.



Ich sehe Reflexivität bei Bitcoin



Der Wert von Bitcoin ist untrennbar mit seiner Verwendung verbunden. Je mehr Menschen über das Bitcoin Netzwerk handeln, desto größer müsste dessen Wert sein. Schließlich braucht man Bitcoins, um sie zu verwenden. Das bedeutet, Bitcoins werden nach Bedarf gekauft und verkauft. Daraus folgt, dass hinsichtlich des Werts von Bitcoin und der Anzahl seiner Nutzer eine Rückkopplungsschleife existiert.

Das fixierte Angebots an Bitcoins und die erste Adaption der Blockchaintechnologie an sich schufen eine optimale Voraussetzung für Spekulationen. Die Reflexivität kann dabei etwas Licht in die entstandene Blase und deren anschließendes Platzen bringen.



Ich sehe Reflexivität im Momentum.



Momentum ist ein Marktphänomen, bei dem die leistungsstärksten Vermögenswerte weiterhin über dem Durchschnitt des Marktes liegenn, während die „Verlierer“ weiterhin zurückbleiben. Nach der EMH ist ein derartiges Momentum nicht möglich. Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen jedoch bestätigen die Existenz des Phänomens – und zwar eindeutig, dass die Dynamik dieses Phänomens bei quantitativen Anlagestrategien quasi standardmäßig als Faktor einbezogen wird.

Praktisch bedeutet es, dass bei Momentumstrategien Gewinner am Markt gekauft und Verlierer verkauft werden. Dieses Verhalten erzugt eine selbstverstärkende Schleife. Dabei trägt nicht nur die immer größere Beliebtheit dieser Strategie dazu bei, dass sie immer mehr Erfolg verspricht, vielmehr trägt auch das regelmäßige Säubern des Portfolios von schlecht abschneidenden Werten dazu bei. Selbiges gilt auch bei passiven marktpreisorientierten Anlagestrategien.



Ich sehe Reflexivität im "FED Put".



Der "FED Put" [Put = Kaufsignal] stammt aus der Zeit, als Alan Greenspan in den 90er und 2000er Jahren die Federal Reserve (FED) leitete. Ursprünglich als „Greenspan Put“ bezeichnet, wurde damit eine Theorie bezeichnet, wonach sich die Geldpolitik der FED vor allem am Stand der Aktienmärkte orientiert und weniger an den gegebenen makroökonomischen Faktoren. Die FED handelt oder reagiert, um die Börse zu unterstützen – und insbesondere dann, wenn die Preise zu sinken drohen, anstatt seiner eigentliche Aufgabe in Form der Förderung des Wachstums und der Preisstabilität nachzugehen. Obwohl von der FED stets bestritten haben eine Reihe von Forschungsarbeiten (wie diese und diese) gezeigt, dass dem tatsächlich so ist.

"Wir stellen fest, dass die Erklärung der Handlungsentscheidungen durch die Federal Reserve über negative Aktienrenditen besser ist, als der Zustand fast aller 38 von Bloomberg erfassten Makrovariablen.“ (Anna Cieslak und Annette Vissing-Jorgensen, The Economics of the FED Put)

Viele Händler am Markt versuchen, das Vorgehen der FED zu antizipieren. Da die Geldpolitik das (kurzfristige) Marktverhalten beeinflussen kann und das Abschneiden der Börse die Geldpolitik beeinflussen kann, besteht hier eindeutig eine reflexive Beziehung. Die FED achtet auf die Signale der Börse, und die Börse schaut auf die FED; es handelt sich quasi um eine zirkuläre Kausalkette.



Ich sehe Reflexivität auf den Kreditmärkten.



Unternehmen (und Personen) geraten in Verzug, wenn sie ihre Rechnungen nicht bezahlen können. Es fehlt ihnen in diesem Fall an Liquidität. In den seltensten Fällen geschieht dies durch Zufall. Mit dem Zugang zu Krediten kann den Tag der Abrechnung herausgeschoben werden und dem Schuldner Zeit geben, um heil durch die schwierige Phase zu kommen. Je größer jedoch der Liquiditätsbedarf ist, desto größer ist das Ausfallrisiko und desto geringer ist auch die Bereitschaft der Kreditgeber, das benötigte Geld zu verleihen. Darüber hinaus werden die Kreditkonditionen bei finanzieller Not zunehmend unbezahlbar. Die Kreditgeber verlangen höhere Zinsen verlangen, was die operative Flexibilität einschränkt. Mit den hohen Zinsen können sich die Kreditgeber zwar absichern, allerdings schränkt dies gleichzeitig die Fähigkeit des Unternehmens ein, die Kredite zurückzuzahlen, was wiederum zu einem Anstieg des Ausfallrisikos führt. Mit dieser inhärenten Rückkopplungsschleife ist die Reflexivität daher eine eindeutige Qualität von Kreditmärkten.



Ist auch die Zinskurve reflexiv?



Vor kurzem hat sich die Zinskurve für US-Staatsanleihen umgekehrt. Die Rendite für Anleihen mit einer 90 Tagefrist übertraf jene von Anleihen mit einer Laufzeit von zehn Jahren. Das kommt nur selten vor und ist in der Regel ein klares Zeichen für eine Rezession. Tatsächlich ist eine Umkehrung der Zinskurve der wohl zuverlässigste Indikator für eine Rezession seit den 1960er Jahren.

Wichtig ist, dass diese Beziehung alleine noch keine Kausalität darstellt. Sicherlich gibt es Theorien, wonach hier eine Kausalität vorliegt. Die meisten davon arbeiten mit der FED als Einflussfaktor, wenn diese die Zinsen zu stark anhebt. Derartige in der Vergangenheit liegenden Entscheidungen können jedoch irrelevant sein. Was genügt ist das Wissen für solche Ereignisse, mit dem die Möglichkeit der Reflexivität in Form des Handelns über deren Erwartung überhaupt erst Realität wird.

Die Aussagekraft der Zinskurve ist allgemein bekannt. Könnte daher das bloße Auftreten einer solchen Umkehrung eine Rezession auslösen? Werden Investoren, die mit dem Geschehen der Vergangenheit vertraut sind, auf die Aussicht einer Rezession reagieren und an den Märkten einen Ausverkauf lostreten?

Ich persönlich halte das für eine der interessantesten Fragen, mit denen wir als Anleger konfrontiert sind. Wären Sie ein Fondsmanager, wie würde das Wissen um die mögliche Konsequenz aus der Umkehrung der Zinskurve Ihre Anlageentscheidungen beeinflussen? Denken Sie an das Karriererisiko für den Manager, falls er viel Geld verliert, weil ein potenziell sehr starkes Signal ignoriert. Dazu kann man auch kaum jemandem einen Vorwurf machen, der sich zur Vorsicht entschied und am Ende daneben lag.

Aber gehen wir noch einen Schritt weiter. Betrachten Sie die oben beschriebene und nachgewiesene Beeinflussung von Entscheidungen durch die FED vom Geschehen am Aktienmarkt. Einerseits könnten sich die Märkte abschwächen, andererseits würden die Zentralbanken darauf reagieren. Was löst diese potenziell gegensätzlichen Kräfte aus?



Im ernst, wie sollte man auf die Reflexivität reagieren?



Reflexivität ist ein faszinierendes Thema, welches als Forschungsgebiet noch immer am Anfang steht. Ich persönlich sehe die Reflexivität einfach überall, wo ich danach suhe. Aber auch wenn die Reflexivität viele Marktphänomene hervorragend erklären kann, so ist ihre Umsetzung und der Einbezug in die Anlagestrategie alles andere als einfach. Dazu braucht es einen wirklich begabten Geist. Es braucht starke Prinzipien und zuverlässige Instrumente zur Datenerfassung. Die Beherrschung von Induktion und Schlussfolgerung ist Voraussetzung.

Leider gibt es keine abschließende Antwort auf das Rätsel der Umkehrung der Zinskurve, wie wir es kürzlich erlebten. Nur die Zeit wird zeigen, was wirklich geschieht. Wie George Soros vor über dreißig Jahren feststellte könnte das Ergebnis von unseren gemeinsamen Aktionen abhängen, auf der gegenseitigen Erwartungshaltung basieren. Wenn die Reflexivitätstheorie zutrifft, dann sind wir es, die heute die Antwort für Morgen in der Hand halten. Daher fragt sich: Wie sollte man auf die Reflexivität reagieren?

Was sich ebenso fragt ist, ob es vielleicht noch einen geheimen zweiten Band gibt mit dem Titel „Die Alchemie der Politik“. Wer weis, vielleicht haben sich Merkel und Konsorten ganz einfach nur der Reflexivität verschrieben, während das Dummvolk noch immer eine Politik erwartet, die sich an den Fundamentalwerten orientiert. In gewisser Weise würde das sogar sehr viel von all jenem erklären, das wir derzeit auf dem politischen Parkett vorgeführt bekommen.