Algerier rufen "Allahu Akbar" (Bildquelle) |
Europas Portfolio an potenziell alles zerstörenden Krisen ist umfangreich und wächst beständig. Das neueste Sargnagel für den Kontinent heißt dabei „Algerien“. An der Spitze des nordafrikanischen Land steht bislang noch immer der frankreichtreue Greis Bouteflika, der sein Land allerdings überwiegend vom Krankenbett aus regiert. Es steht in den Sternen, ob der Mann die kommenden Wahlen ohne Manipulation und großen Widerstand gewinnen kann. Denn der politischen Islam, die derzeitige Protestwelle und die allgemein grassierende Dummheit hat auch Algerien erfasst und könnte die bestehenden schwachen, aber fest zementierten Strukturen des Landes komplett wegschwemmen. Die Folge wäre ein Migrantentsunami, dem Frankreich und ganz Europa nicht mehr standhalten könnten.
The American Conservative: Algerien: Der Eisberg, der Emmanuel Macron versenken könnte
Die aktuellen
Unruhen in dem Land bedrohen inzwischen auch Frankreich und könnten
zu einer neuen Migratenwelle führen.
Nachdem er mehrere
Attentate französischer Partisanen der Algérie Française überlebt
hatte, unterzeichnete Charles de Gaulle im März 1962 ein
Friedensabkommen, das die französische Herrschaft über Algerien
beendete. Der Krieg um die Unabhängigkeit Algeriens war lang und
heftig und er war geprägt von Terrorismus und Folter. Jeder, der in
der französischen Politik eine Rolle spielte ging im Jahr 1954 noch
fest davon, dass Algerien als integraler Bestandteil Frankreichs um
jeden Preis verteidigt werden müsse. Bis 1962 jedoch hatte sich
diese Sichtweise geändert. Mit kaltem Realismus kommentierte de
Gaulle den Konflikt in seinem siebten Jahr mit: „Was Frankreich
betrifft, so wird es notwendig sein, dass sich das Land jetzt für
etwas anderes interessiert.“
Frankreich hat sich
nach der Unabhängigkeit Algeriens recht gut geschlagen. Algerien
nicht so sehr. Jene Algerier, die sich auf die Seite Frankreichs
stellten, die in dessen Armee gekämpft oder als Verwalter der
algerischen Regierung gedient hatten erlitten schreckliche Verluste -
viele hatten schreckliche Todesfälle zu beklagen durch die
rachsüchtigen Sieger. Laut Alistair Hornes „Savage War of Peace“
wurden im Sommer nach dem Waffenstillstand vom März 1962 15.000
Menschen getötet.
Ein wichtiger Grund,
warum de Gaulle in der Algerienfrage mit seinen konservativen
Anhängern brach und beschloss, die Unabhängigkeit Algeriens zu
verhandeln war, dass er annahm, Franzosen und Algerier seien
grundlegend unterschiedliche Völker. Algérie Française, das
„Frankreich der hundert Millionen“, das die algerische
Bevölkerung umfasste sowie die riesigen Öl- und Gasvorkommen im
nordafrikanischen Gebiet war für ihn nichts als eine
Phantasievorstellung. Laut seinem Kollegen Alain Peyrefitte meinte de
Gaulle 1959 in privater Runde, dass man Araber und Franzosen zwar
miteinander mischen könne, diese sich aber wie Öl und Essig in
einem Gefäß nach einer Weile wieder zwangsläufig trennen würden.
Er befürchtete, dass eine Algérie Française zwangsläufig dazu
führen würde, dass sein Heimatdorf Colombey-les-Deux-Églises
früher oder später in ein Colombey-Les-Deux-Mosquées umgewandelt
würde [„Églises“ bedeutet Kirche; was „Mosquées“ bedeutet
kann sich jeder denken].
Dennoch blieb
Algerien nach der Unabhängigkeit wirtschaftlich eng mit Frankreich
verbunden, nicht zuletzt als Hauptquelle für „temporäre“
Fabrikarbeiter, die zu einer Migrationsbewegung wurde, die bereits
während des Algerienkriegs begann. Selbst als der Bedarf an
Fabrikarbeitern abnahm führte Frankreich Bestimmungen zur
Familienzusammenführung ein, um es den bereits im Kernfrankreich
lebenden Arbeitern zu ermöglichen, zu heiraten und ihre Frauen nach
Frankreich zu bringen. Eine Bestimmung, die kein nachfolgender
Präsident rückgängig machen konnte. In Frankreich gibt es heute
rund drei Millionen Algerier mit französischer oder doppelter
Staatsbürgerschaft. Die Beziehungen Frankreichs zur algerischen
Regierung sind privilegiert - jeder französische Präsident macht in
seinem ersten Amtsjahr einen Staatsbesuch in Algerien. Der Handel ist
für beide Seiten wichtig, und Algerien spielt eine entscheidende
Rolle in der französischen Afrikapolitik, da es an Mali, Niger und
Libyen grenzt. Es ist daher quasi die tiefsitzende Furcht eines
jeden, der in Frankreich mit offenen Augen herumläuft – mit der
Ausnahme islamistischer Kämpfer vielleicht – dass sich Algerien
destabilisieren könnte oder Unruhen ausbrechen.
Genau so könnte es
nun aber kommen. Algeriens Präsident Abdelaziz Bouteflika erlitt vor
sechs Jahren einen schweren Schlaganfall und erscheint heute nur noch
selten in der Öffentlichkeit. Dennoch besteht er (oder diejenigen,
die für ihn sprechen) im Alter von 82 Jahren darauf, dass er für
eine fünfte Amtszeit als Präsident kandidiert. Da die Wahlen in
Algerien nicht frei sind und die Regierungspartei die volle Kontrolle
über den Zugang zu den Wahlen und die Stimmenauszählung hat
bedeutet das, dass sein Sieg mehr oder weniger bereits feststeht.
Seit der Ankündigung seiner Kandidatur sind Hunderttausende von
Algeriern in temperamentvollen, aber friedlichen Protesten in Städten
im ganzen Land auf die Straße gegangen. Sie wurden von ihren gelb
bewesteten Brüdern in den französischen Städten begleitet.
Nur wenige scheinen
das wahre Kräfteverhältnis in der algerischen Politik zu kennen: Es
gibt einen mächtigen Staatsapparat, der mit der Armee verbunden ist,
aber keine starken politischen Parteien. Als Islamisten im Jahr 1991
die erste Runde der Parlamentswahlen gewannen sah sich die Armee zu
einem Putsch veranlasst, der einen brutalen Bürgerkrieg auslöste.
Sechs Jahre später schließlich gewann eine mit der Armee verbundene
Partei die Parlamentswahlen, während sich Bouteflika 1999 die
Präsidentschaft sicherte und mit Hilfe von Amnestien eine Form der
nationalen Wiedervereinigung einleitete. Es ist dieser Bouteflika,
der in den 1960er Jahren zur jungen Avantgarde der algerischen
Befreiungsbewegung zählte, der zu einer versöhnenden Figur nach dem
Bürgerkrieg der 1990er Jahre wurde, und der heute als Achzigjähriger
die Symbolfigur eines gemeinhin als korrupt geltenden Regimes ist,
der wie ein Korken die Flasche mit dem algerischen Gemisch
verschließt. Und niemand weiß was passieren wird, wenn der Korken
einmal entfernt wird.
In Frankreich hat
die Regierung von Präsident Emmanuel Macron letzte Woche ihren
Botschafter für Konsultationen zurückgerufen, während Experten der
Region möglicherweise auf Befehl behaupten, dass die Islamisten
nicht annähernd so beliebt sind wie in den 1990er Jahren. Niemand
weiß so recht, welche Analogien gezogen werden könnten zur
Situation in Algerien. Der arabische Frühling, der schließlich zu
einer Militärdiktatur in Ägypten und einem wilden Bürgerkrieg in
Syrien führte, erscheint kaum wünschenswert als Schablone für
Algerien. Ebenso wenig gilt dies für den Aufstand gegen den
libyschen Moammar Gaddafi, der - nachdem Frankreich die Rebellion
gegen ihn unterstützt hatt - zu Tode kam, was zum totalen
Zusammenbruch Libyens als funktionierendem Staatswesen führte. Die
traurige Tatsache ist, dass es in der arabischen Welt nur wenige
attraktive Modelle für die staatliche Nachfolge von Bouteflika gibt
(man könnte eventuell nach Tunesien blicken, obwohl das Land im
Vergleich zu Algerien nur sehr klein ist).
Der
französisch-algerische Schriftsteller Boualem Sansal fing die
Mehrdeutigkeit gut ein, die viele bei dem Thema wahrnehmen. In einem
kürzlich für Le Figaro veröffentlichten Interview begrüßte er
massive friedliche Demonstrationen als die Aufhebung der Lethargie
von einem Volk, das eine bessere Regierung verdient als sie hat. Er
stellte dazu fest, dass Algerien ein reiches Land ist mit einer
großen Zahl von gebildeten und talentierten Menschen. Aber er fragte
auch: „Wie geht man zur nächsten Stufe über, auf der freie Wahlen
durchgeführt werden und auf der die gemachten Schäden behoben
werden, die durch 57 lange Jahre Diktatur und Korruption entstanden
sind, wie kann das Land wieder in Lohn und Brot gebracht werden und
ein Soziales System entstehen. Wer wird das leiten? Ein weiterer
Bouteflika etwa, der in einem Labor der Sicherheitsdienste gezüchtet
wurde? Vielleicht ein Ausschuss für öffentliche Sicherheit? Ein
hilfreicher Prophet?“
Sansal fügte hinzu,
dass Islamisten stets im Schatten auf ihre Gelegenheit warten, dass
sie zahlreich sind, bestens organisiert und wild entschlossen.
Algerien sei ein konservatives muslimisches Land. Der Salafismus ist
dort eine mächtige Kraft, und die Regierung wendete Milliarden auf,
um dieser Entwicklung zu begegnen mit einem „wahren“ Islam und es
wurden unzählige klimatisierte Moscheen gebaut, um mit den
Gebetshäusern der Extremisten zu konkurrieren. Im Ergebnis widmen
sich heute große Teile der Bevölkerung intensiv verschiedenen
Formen des abergläubischen Exorzismus und weisen kaum Verbindungen
zur Moderne auf.
Sansal (und die
meisten anderen Kommentatoren) bestehen darauf, dass die Macht der
Armee nicht versagen wird - sie kontrolliert das Land umfassend und
ist entschlossen, jeder islamistischen Herausforderung zu
widerstehen. Aber er räumt auch ein, dass das Militär den
Bürgerkrieg der 90er Jahre nie wirklich gewonnen hat und die
Islamisten politisch nie besiegt wurden.
Sollte Algerien im
Chaos versinken, dann würde auch Frankreich destabilisiert werden.
Der Bürgerkrieg vor 25 Jahren führte zu einem enormen
Migrationsschub und sollte es wieder so kommen, dann wäre die
Migration dieses Mal noch um einiges größer. Unter diesen Migranten
würden sich eine große Zahl von Islamisten befinden und die
unkontrollierte, illegale Migration nach Frankreich würde auch
bedeuten, dass die Franzosen nicht jeden kontrollieren könnten, der
sich auf über das Mittelmeer macht. Währenddessen stellen zumindest
einige Viertel in Frankreich bereits jetzt eine Islamische Republik
im Embryonalstadium dar.
Macron ist sich
bewusst darüber, dass Algerien jener Eisberg werden könnte, der
seine Präsidentschaft versenken könnte, da eine derartige Krise
seinen Bodyguardskandal (die Benalla-Affäre) und die
Gelbwestenproteste leicht übertreffen würde. Seine Regierung
scheint hin- und hergerissen zwischen politisch korrekten
öffentlichen Äußerungen und der Sorge um die fortschreitende
Islamisierung unter den Moslems des Landes. Während des Wahlkampfes
machte er eine große Geste, indem er dem Frankreich der Kolonialzeit
„Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezichtigte, jedoch ruderte
er danach wieder zurück. Einer seiner wichtigsten Verbündeten sagte
kürzlich, dass es keinen wirklichen Unterschied zwischen dem
muslimischen Kopftuch und einem Kopfschmuck gibt, das von
katholischen Schulmädchen getragen wird, nur um von einem weiblichen
Kabinettsmitglied getadelt zu werden, die bemerkte, dass „noch
keine Katholikin auf der Welt gesteinigt wurde, nur weil sie ihren
Kopfschmuck nicht getragen hat“.
Wieder und wieder
beteuert das offizielle Frankreich, dass es die algerische
Selbstbestimmung unterstützt, gleichzeitig aber befürchtet es, dass
die Algerier demnächst eine schreckliche Wahl treffen könnte, mit
der Frankreich eines wertvollen strategischen Partners beraubt würde
und die eine unkontrollierbare Migrationswelle auslösen könnte. Die
konservativen Zeitschriften sind voller Mahnungen über die
Notwendigkeit für einen stärkeren Realismus in der Algerienfrage,
doch machen nur wenige von ihnen auch Vorschläge, was dies bedeuten
könnte. Im Jahr 1830, dem Jahr der kolonialen Einverleibung, war
Frankreichs Bevölkerung 17 mal so groß als jene von Algerien. Heute
ist sie weniger als doppelt so groß. De Gaulle hatte Recht damit als
er sagte, dass Frankreich mit der Unabhängigkeit Algeriens etwas
anderes finden müsste, worüber sich das Land Sorgen machen muss.
Nun aber, 57 Jahre später, erweist sich dies als einfacher gesagt
als getan.f